Das Labyrinth der Zeit
und sich eine gespenstische Abfolge wirrer Traumbilder entspann, die sich rückwärts durch die Nacht zogen. Diese Eindrücke waren ihm gänzlich rätselhaft – Bäume und Felder, Korridore und Klassenzimmer –, und dann war er auf einmal wieder wach, lag auf die Ellbogen gestützt bäuchlings im Bett und starrte im Schein seiner Nachttischlampe auf ein Buch hinab. Seine Hand kam hervor und blätterte um, rückwärts allerdings. Dann noch einmal.
Er verlangsamte den Erinnerungsstrom, bis er schließlich in Echtzeit ablief. Hielt ihn ganz an.
In seinem Gesichtsfeld sah er das Buch, den Nachttisch und den Wecker am Fuß der Lampe.
23.57 Uhr.
Das reichte.
Travis ließ das Bild eingefroren, wie es war, und wartete. Zwei Sekunden verstrichen. Drei. Dann plötzlich eine Empfindung. Nicht in den Fußsohlen diesmal, sondern im gesamten vorderen Körperbereich: in seinen Beinen, seinem Oberkörper und seinen Ellbogen, die ein winziges Stück über dem Bett zu schweben schienen.
Er ließ sich fallen.
Die Veränderung war so durchgreifend, dass er heftig zusammenzuckte. Bei seinem ersten Selbstversuch mit dem Anzapfer war er lediglich zwei Jahre zurückgereist; was körperlich zu seinem jetzigen Alter von vierundvierzig Jahren keinen Unterschied gemacht hatte.
Zehn zu sein war jedoch anders – bestürzend anders –, wobei seine Körpergröße und Gestalt noch längst nicht den Hauptgrund für sein Erschrecken bildeten.
Dafür gab es andere Gründe.
Seine Sinne. Mit denen er seine Umgebung so intensiv wahrnahm wie im Rausch. Hatte er sich als Kind tatsächlich die ganze Zeit über so gefühlt? So lebendig, so animalisch geradezu? Hatte er dieses Gefühl so unmerklich verloren, dass es ihm gar nicht zu Bewusstsein gekommen war? Er sog einen tiefen Atemzug der feuchten Luft ein, die durch die Jalousie hereindrang. Roch das Aroma von gemähtem Gras und nassem Straßenpflaster, dazu den süßlichen Geruch der aufgeklappten Buchseiten vor ihm, die aus Papier minderer Güte bestanden. Ein blau eingebundenes Buch ohne Schutzumschlag. Er klappte es zu. Die Hardy Boys Band 2: Das Haus auf der Klippe. Er legte es neben die Nachttischlampe und horchte in die Nacht hinaus. Grillen, Laubheuschrecken, das ferne Zischen von Autoreifen auf Asphalt. Es kam ihm vor, als wäre sein Gehör merklich schärfer, als er es gewöhnt war. Auch sein Sehsinn schien feiner ausgeprägt, was aber nicht an der Klarheit der Wahrnehmung lag, auch mit vierundvierzig benötigte er nach wie vor keine Brille. Nein, es hatte mehr mit der Intensität der Farben zu tun. Mit der Sättigung vielleicht. Egal was es genau sein mochte, mit Kontaktlinsen jedenfalls ließ es sich nicht wiederherstellen, wenn man es erst einmal verloren hatte.
Unter all den Sinneseindrücken lag noch etwas anderes, schwieriger zu benennen, aber deutlich tiefer gehend. Eine Mischung aus Hormonen, sauerstoffreichem Blut und purer, unverstellter Empfindung. Die schlichte, überschäumende Energie, von der man als Kind nun einmal beseelt war. Ein Gefühl, als würde er am liebsten jetzt gleich auf einen Baum klettern und übermütig an einem Ast schwingen. Hätte es eine Droge gegeben, mit der man sich als Erwachsener in diesen Gefühlszustand versetzen konnte, wäre damit wohl all das Dreckszeug obsolet gewesen, mit dem seine Eltern vermutlich auch 1978 schon handelten.
Er spähte durch seine offene Tür in das Zimmer auf der anderen Seite des Flurs und sah seinen Bruder Jeff, tief und fest schlafend im bläulich weißen Schein seiner Captain-Kirk-Schlummerlampe. Jeff war sieben und bereits ein eingefleischter Raumschiff-Enterprise-Fan. Travis widerstand dem Impuls, ihn aufzuwecken und mit der frohen Kunde zu überraschen, dass schon nächstes Jahr eine Spielfilmfassung in die Kinos kommen würde.
Von weiter weg war das Geräusch des Fernsehers im Wohnzimmer zu hören, ganz leise nur, weil der Ton fast ganz heruntergedreht war. Eine Werbeunterbrechung offenbar. Diese Gegenmaßnahme hatte sein Vater sein Leben lang ergriffen, auch schon vor der Erfindung der Fernbedienung. Jetzt knarrte der Fußboden, und der Fernseher wurde wieder lauter gedreht. Trompeten schmetterten eine kurze Melodie, und dann war die Stimme von Talkmaster Johnny Carson zu hören.
Travis schaltete seine Lampe aus, drehte sich auf den Rücken und wartete.
Sein Vater ging um 1.07 Uhr zu Bett.
Um 1.12 Uhr fing er zu schnarchen an.
Nachdem Travis noch fünf Minuten gewartet hatte, stand er auf und
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