Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
ebenfalls anzuhalten. Mary hatte die Augen weit aufgerissen. Sie stutzte. Ohne ein weiteres Wort beugte León sich vor, umfasste mit beiden Händen Marys Gesicht, zog sie zu sich heran…
...und küsste sie.
Zuerst schien Mary nicht zu verstehen, was geschah, aber dann riss sie sich mit ungeahnter Kraft von ihm los und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.
»Tu… das nie wieder. Nie wieder!«, zischte sie.
Seine Wange brannte wie Feuer, aber als León die Wut in Marys Augen sah, lächelte er. Er stieß sie grob mit der flachen Hand an.
»Weiter!«, befahl er knapp, wandte sich um und rannte los, ohne auf sie zu warten.
In Mary tobte der Zorn. Zorn auf ihre Angst vor ihrem Vater, die sie nicht abschütteln konnte. Zorn auf sich selbst, dass sie David ihrem Vater ausgeliefert hatte. Zorn auf León. Auf die Männer, die sie jagten. Zorn auf diese beschissene, kalte Welt.
Rotz lief ihr aus der Nase. Und auch das machte sie nur noch zorniger. Am liebsten hätte sie vor Wut geheult, aber sie riss sich zusammen. Niemand würde kommen, um sie in den Arm zu nehmen. Niemand würde sie trösten. Niemand würde dafür sorgen, dass alles wieder gut wurde.
Nein! Es liegt an mir allein.
León war schon zehn Meter vor ihr. Er drehte sich nicht nach ihr um. Und dann kapierte sie es.
Dieser Scheißkerl hat mich nur geküsst, um mich wütend zu machen. Arschloch!
Mary verzog das Gesicht und stolperte los.
Kathy war bis zum Rand des Daches zurückgewichen. Nach und nach drängten die Männer durch die zerborstene Tür. Es waren acht.
Acht zerlumpte Gestalten, die eine Gasse bildeten, durch die nun ein neunter Mann das Dach betrat. In zwei Meter Abstand blieb er vor ihr stehen, ohne das blutige Messer zu beachten, das ihm Kathy entgegenstreckte.
Er stand da, starrte sie an. Sein Gesicht war zornig verzerrt und er bleckte die Zähne.
»Wo ist sie?«, knurrte er.
Kathy lächelte abfällig. »Weg. Vergiss sie. Du wirst sie nie wiedersehen.«
Er spuckte in den Schnee. »Dann du!«, sagte er ruhig und grinste sie gebieterisch an. Kathy erstarrte. Sie wollte noch weiter zurückweichen, aber sie hatte bereits den Rand des Daches erreicht. Hinter ihr gähnte ein bodenloser Abgrund, der sich nach ihr ausstreckte, eine schwarze Leere.
Kathy spürte, dass der Augenblick gekommen war. Die Sonne ließ ihre Strahlen über die Hausdächer gleiten und alles golden schimmern. Die Helligkeit verzauberte eine düstere und lebensfeindliche Welt, die es nicht verdient hatte, verzaubert zu werden. Kathy fühlte die zaghafte Wärme des neuen Tages auf ihrem Gesicht. Ihr ganzer Körper schien von innen heraus zu strahlen. Sie war stark. Sie war bereit. Sie hatte keine Angst mehr.
Ruhig blickte sie dem Fremden in die Augen.
Kathy ließ das Messer in den Schnee fallen. Dann breitete sie die Arme aus und kippte langsam nach hinten.
Während sie in die Tiefe fiel, waren ihre Gedanken in einer anderen Welt. Kathy sah sich auf einem Surfbrett liegend aufs türkisblaue Meer hinauspaddeln. Der Sonne und der ersten Welle entgegen.
52.
León hätte laut schreien können. Er sah bereits die Portale, er fühlte sich schon fast in Sicherheit, doch ein letzter Blick nach hinten erzählte ihm eine andere Wahrheit. Sie würden es nicht schaffen. Mary strauchelte und würde jeden Augenblick zusammenbrechen.
Dann endet es hier. Er blieb stehen und drehte sich um. Mary stolperte auf ihn zu und prallte gegen seine Brust. Mit einem leisen Seufzen hielt sie sich an ihm fest. Ihr Atem ging nur noch stoßweise, in keuchenden Schüben. León zog sein Messer aus dem Gürtel. Über Mary hinweg blickte er dem Mann entgegen, der sie als erster erreichen würde. Er war nicht größer als er selbst und jetzt erkannte er auch wenige Gesichtszüge, er hatte einen wilden struppigen Bart und ein bleiches Gesicht. León schaltete seinen Verstand aus. Jetzt war keine Zeit für Angst. Keine Zeit für irgendwelche Pläne. Nur der Moment, nur der Kampf zählte. León spürte ein wildes Grinsen in seinem Gesicht. Er machte einen Schritt um Mary herum und stellte sich schützend vor sie. Er ging ein wenig in die Knie, um den Aufprall seines Gegners abfangen zu können.
Der Mann beschleunigte erstaunlicherweise noch, als er sah, dass seine Beute nicht mehr weiterflüchtete und nun zum Greifen nahe war.
Wenn er schlau ist, wartet er auf die anderen.
Er war nun so dicht bei ihnen, dass León seine Augen aufflackern sah. Schwarze, gierige Augen. Der Mann öffnete den Mund zu
Weitere Kostenlose Bücher