Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
immer wieder vor mir sehe. Er ist so alt wie ich. Und dürr. Seine dunklen Augen starren mich angsterfüllt an. In einer Hand hält er eine Pistole, deren Lauf nach unten zeigt. Noch. Ich weiß, dass er gleich den Arm hochreißen wird, um auf mich zu schießen.
Er ist der Feind. Ich habe gelernt, ihn zu hassen, noch bevor ich das Licht der Welt erblickte. Trotzdem will ich ihn nicht wie einen Hund abknallen. Ich schüttele langsam den Kopf. Versuch es nicht, will ich ihm damit sagen, aber ich lese in seinen Augen, dass er es tun wird. Auch er hat gelernt zu hassen. Mich zu hassen, obwohl er mich bis zu diesem Augenblick nicht kannte. Dann geschieht alles in einem Sekundenbruchteil. Er bewegt sich. Sehr schnell. Aber ich bin schneller. Die Waffe in meiner Faust wiegt schwer, der Rückschlag reißt meine Hand zurück. Eine rote Blume erblüht auf seiner schmalen Brust. Er schaut mich an. Dann sacken unter ihm die Beine weg. Wie eine Marionette, deren Fäden durchschnitten wurden, fällt er in sich zusammen. An seinem Tod ist nichts Glorreiches und ich fühle mich mies. Geradezu erbärmlich im Schmutz meines Lebens.
Verloren.
Ich habe einen Menschen getötet.
Gott hat seinen Blick von mir abgewandt.
Ich bin nicht mehr sein Kind, ich gehöre der Straße.
Bis auch mich eine Kugel trifft.
Plötzlich stand Mischa neben ihm. Als der ihn leicht an der Schulter berührte, zuckte er erschrocken zusammen.
»So in Gedanken?«
León nickte nur. Er wusste nicht, woher die Bilder in seinem Kopf plötzlich kamen, aber er spürte ihre Wahrheit. Wer immer er auch gewesen sein mochte, bevor er hierhergekommen war, er war kein guter Mensch. Man konnte daran zerbrechen oder es einfach akzeptieren. León akzeptierte es.
Er sah Mischa an. Könnte ich dich töten, wenn es so weit ist?
Ja, ohne zu zögern, antwortete eine Stimme tief in seinem Inneren.
León erhob sich und ging hinaus in die anbrechende Dämmerung.
Er musste jetzt allein sein.
Mary saß auf dem Boden, den Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt, die Augen geschlossen. In kleinen Schlucken trank sie aus ihrer Wasserflasche. Sie fühlte sich schwach, ihr Herz pochte unruhig in ihrer Brust. Sie versuchte, ruhig zu atmen, aber irgendwie wollte ihr das nicht gelingen.
Ich habe keine Kraft mehr. Dabei ist das erst der Anfang.
Warum bin ich hier?
Diese Frage hämmerte schon den ganzen Tag in ihrem Kopf. Bei jedem Schritt war diese Frage gekommen.
Warum bin ich hier?
Warum bin ich hier?
Warum bin ich hier?
Sie schlug die Augen auf und schaute zu den anderen hinüber. Jenna, Jeb, Mischa, Kathy, Tian und León.
León.
Dieser tätowierte Junge faszinierte sie. Zugleich machte er ihr Angst. All die seltsamen Muster auf seinem Körper und in seinem Gesicht ließen sie schaudern, aber es war mehr als das. Die herablassende Art, mit der er sie behandelte, ließ ihr Gesicht vor Zorn glühen. Erst das merkwürdige Gespräch mit ihm auf der Ebene und vorhin seine Weigerung, ihr zu helfen, obwohl er doch sehen musste, wie erschöpft sie war.
Er hatte gesagt, sie solle sich selbst Wasser holen. Dabei hatte sie sich kaum noch auf den Beinen halten können.
León war gemein. Ein Mensch, der keine Rücksicht auf andere nahm.
Verflucht soll er sein, dachte Mary.
Und doch wanderte ihr Blick immer wieder zu ihm hinüber. Sie konnte nicht anders, als ihn zu beobachten. Als ob man eine giftige Schlange im Auge behielt.
Denn das war er in ihren Augen.
Ein wildes, gefährliches Tier.
Er hatte ihren Blick bemerkt und richtete sich nun zu voller Größe auf. Um seinen Mund lag ein verächtliches Grinsen, als er zu ihr hinüberschaute. In seinen Augen erkannte sie die Respektlosigkeit, mit der er ihr ständig gegenübertrat.
Mary spürte wieder Hitze in ihr Gesicht steigen, sie wollte sich abwenden, zwang sich aber, seinem Blick standzuhalten. Sekunden vergingen, dann lächelte León breit und sandte ihr einen Luftkuss. Mary schnappte nach Luft.
Was für ein Arschloch.
13.
Die Nacht brach schnell über sie herein, aber sie hatten rechtzeitig ein Feuer entfacht. Nun saßen alle im Lichtschein der Flammen und unterhielten sich leise. Die meisten hatten den Rest ihrer Vorräte verbraucht und außer Wasser war ihnen nichts geblieben. Selbst León, der eine Zeit lang aus dem Blickfeld der anderen verschwunden war, war ans Feuer getreten und sprach leise mit Jenna, die ihm mit ernster Miene lauschte. Jeb sah sie an. Etwas regte sich in ihm. Er mochte sie, auch wenn Mary und Kathy
Weitere Kostenlose Bücher