Das Laecheln der Sterne
aber damals entsprach es seinem Wesen.
Doch in dem Moment, da er in die rot geränderten Augen der Frau auf der Veranda blickte, kam er sich wie ein Eindringling auf unvertrautem Gebiet vor. Instinktiv wollte er das bewährte Abwehrverhalten einsetzen, doch etwas in ihrem Blick machte ihm das unmöglich. Vielleicht war es auch der Ort oder die Tatsache, dass die Frau allein war – was immer es war, das plötzliche Mitleid, das in ihm aufstieg, war ein ihm fremdes Gefühl, das ihn unvorbereitet überkam.
Adrienne hatte den Gast erst viel später erwartet und versuchte nun, ihre Verlegenheit darüber, dass er sie in diesem Zustand antraf, zu verbergen. Sie rang sich ein Lächeln ab, tupfte sich die Augen trocken und tat so, als wäre es der Wind, der ihr die Tränen hineingetrieben hatte.
Dabei konnte sie jedoch ihren Blick nicht von ihm 46
abwenden.
Es muss an seinen Augen liegen, dachte sie. Sie waren hellblau, so hell, dass sie fast durchsichtig erschienen, aber darin lag war eine Intensität, wie Adrienne sie nie zuvor bei einem anderen Menschen bemerkt hatte.
Er kennt mich, dachte sie plötzlich, oder er könnte mich kennen, wenn ich ihn ließe.
So schnell dieser Gedanke gekommen war, so schnell vertrieb sie ihn wieder, denn er kam ihr lächerlich vor. Nein, entschied sie, an dem Mann war nichts Ungewöhnliches. Er war lediglich der Gast, den Jean ihr angekündigt hatte, und da sie nicht am Empfangstisch gesessen hatte, hatte er nach ihr gesucht, das war alles. Jetzt musterte sie ihn, so wie Fremde sich gegenseitig musterten.
Er war nicht so groß wie Jack – vielleicht einen Meter fünfundsiebzig –, aber schlank und durchtrainiert, wie jemand, der täglich Sport trieb. Er trug einen teuren Pullover, der nicht zu seinen ausgeblichenen Jeans passte, doch irgendwie trug er ihn so, dass er passend erschien. Der Mann hatte ein kantiges Gesicht und Falten auf der Stirn, die von jahrelanger angestrengter Konzentration zeugten. Sein graues Haar war kurz geschnitten, und an seinen Schläfen wurde es stellenweise weiß. Adrienne schätzte ihn auf Mitte fünfzig.
In dem Moment schien Paul zu merken, dass er sie unverwandt ansah, und senkte den Blick. »Entschuldigung«, murmelte er, »ich wollte nicht stören.« Er deutete über seine Schulter. »Ich warte drinnen. Lassen Sie sich Zeit.«
Adrienne schüttelte den Kopf. »Nein, ich komme schon. Ich wollte sowieso gerade hineingehen.« Ihre Blicke begegneten sich erneut. Seine Augen wirkten jetzt sanfter, und sie hatte den Eindruck, dass er an etwas Trauriges dachte und versuchte, es zu verdrängen. Adrienne griff nach ihrem Kaffeebecher, was ihr einen Grund gab, sich abzuwenden.
Paul hielt die Tür auf, aber sie bedeutete ihm mit einem 47
Nicken, dass er vorgehen solle. Als er vor ihr her durch die Küche und zum Empfangstisch ging, wurde sich Adrienne plötzlich bewusst, dass ihr Blick über seinen sportlichen Körper wanderte. Sie errötete leicht. Was war bloß in sie gefahren? Adrienne trat hinter den Tisch. Im
Reservierungsbuch suchte sie seinen Namen, dann sah sie auf.
»Sie sind Paul Flanner, stimmt’s? Sie wollen fünf Nächte bleiben, bis Dienstagmorgen?«
»Ja.« Er zögerte. »Kann ich wohl ein Zimmer mit Blick aufs Meer haben?«
Adrienne zog ein Anmeldeformular hervor.
»Natürlich. Sie können jedes Zimmer im ersten Stock haben, Sie sind an diesem Wochenende der einzige Gast.«
»Welches würden Sie empfehlen?«
»Sie sind alle schön, aber ich an Ihrer Stelle würde das blaue Zimmer nehmen.«
»Das blaue Zimmer?«
»Es hat die dunkelsten Vorhänge. Wenn Sie das gelbe oder das weiße Zimmer nehmen, wachen Sie beim Morgengrauen auf. Die Jalousien nutzen nicht viel, und die Sonne geht ziemlich früh auf. Die Zimmer zeigen alle Richtung Osten.«
Adrienne schob ihm das Formular zu und legte den Stift daneben. »Würden Sie bitte hier unterschreiben?«
»Selbstverständlich.«
Adrienne sah zu, wie Paul unterschrieb, und fand, dass seine Hände das passende Gegenstück zu seinem Gesicht waren. Die Fingerknöchel waren ausgeprägt, wie bei einem älteren Mann, aber die Bewegungen der Hände waren präzise und gemessen.
Ihr fiel auf, dass er keinen Ehering trug – nicht, dass das von Bedeutung gewesen wäre.
Paul legte den Stift hin, und Adrienne nahm das Formular in die Hand, um zu prüfen, ob er es vollständig ausgefüllt hatte.
Als Adresse hatte er die seines Anwalts in Raleigh angegeben.
Adrienne nahm einen Schlüssel vom Brett,
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