Das Laecheln der Sterne
vertreten, dass es wichtig war, Zeit mit der Familie zu verbringen, in guten wie in schlechten Zeiten, weil man viel daraus lernen konnte.
Ihr Vater konnte nicht mehr sprechen, aber sie wusste, dass er alles verstand, wenn man mit ihm redete. Durch die Lähmung der rechten Gesichtshälfte war sein Lächeln schief, was sie sehr berührte. Es erforderte menschliche Reife und Geduld, an dem Äußeren vorbei den Mann zu sehen, der er einst gewesen war. Und obwohl ihre Kinder eigentlich dazu in der Lage waren, fühlten sie sich die meiste Zeit, wenn Adrienne darauf bestand, dass sie zu einem Besuch mitkamen, unbehaglich. Es war, als sähen sie in ihrem Großvater eine Zukunft, die ihnen eigentlich unvorstellbar war, und als ängstigte sie der Gedanke, sie könnten selbst so enden wie er.
Adrienne schüttelte jedes Mal zunächst seine Kissen auf, bevor sie sich neben sein Bett setzte. Dann nahm sie seine Hand und fing an zu erzählen. Meistens berichtete sie ihm von den Dingen, die in ihrem Leben passiert waren, auch darüber, wie es den Kindern ging, und ihr Vater sah sie an, den Blick unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet, in der wortlosen Kommunikation, zu der allein er noch fähig war. Wenn sie neben ihm saß, musste sie unweigerlich an ihre Kindheit denken – an den Geruch von Aqua-Velva, der ihn umgab, an 166
den Pferdestall, wo er das Heu in die Krippe füllte, an die Bartstoppeln, die sie kitzelten, wenn er ihr einen Gutenachtkuss gab, an die zärtlichen Worte, die er immer zu ihr gesagt hatte.
Auch am Tag vor Halloween hatte sie ihren Vater in dem Jahr, als sie auf Paul wartete, besucht. Sie fand, dass es an der Zeit war, ihm alles zu sagen.
»Ich muss dir etwas sagen«, begann sie. Und dann hatte sie ihm in schlichten Worten von Paul erzählt und was er ihr bedeutete.
Sie erinnerte sich später, dass sie danach gern gewusst hätte, was er von der Geschichte hielt. Sein weißes Haar wurde immer schütterer, und seine Augenbrauen erinnerten sie an kleine Wattebüschel. Sie sah ihn aufmerksam an.
Er lächelte sein schiefes Lächeln, und obwohl er keinen Laut hervorbrachte, wusste Adrienne, was er sagen wollte, als er seine Lippen bewegte.
Ihre Kehle schnürte sich zu, und sie beugte sich über das Bett und legte ihren Kopf auf seine Brust. Mit seiner unversehrten Hand streichelte er ihr zart über den Rücken.
Unter ihrem Kopf fühlte sie seine Rippen und das sanfte Schlagen seines Herzens.
»Oh, Daddy«, flüsterte sie, »und ich bin stolz auf dich.«
Adrienne trat im Wohnzimmer ans Fenster und schob die Vorhänge zur Seite. Die Straße war leer, und um die Straßenlaternen erstrahlte ein heller Kreis. Irgendwo bellte ein Hund einen wirklichen oder eingebildeten Eindringling an.
Amanda saß noch in der Küche, aber Adrienne wusste, dass sie bald zu ihr ins Wohnzimmer kommen würde. Es war für sie beide ein langer Abend gewesen. Adrienne legte die Hand an die Scheibe.
Was hatten sie einander bedeutet, Paul und sie? Auch nach so langer Zeit konnte sie es nicht mit Bestimmtheit sagen. Es ließ sich nicht leicht in Worte fassen. Er war nicht ihr Ehemann oder ihr Verlobter gewesen, und wenn sie ihn ihren Freund 167
nannte, klang das zu schwach. Geliebter erfasste nur einen kleinen Teil dessen, was sie miteinander erlebt hatten. Paul war der einzige Mensch in ihrem Leben, so ging ihr plötzlich auf, der sich einer eindeutigen Bezeichnung entzog.
Oben am Himmel stand der Mond. Er hatte einen Hof und war umgeben von nachtblauen Wolken, die sich mit dem Wind Richtung Osten bewegten. Am Morgen würde es an der Küste regnen. Adrienne wusste, dass sie recht daran getan hatte, Amanda die anderen Briefe nicht zu zeigen.
Was hätte Amanda aus ihnen lernen können? Ein paar Einzelheiten über Pauls Leben in der Klinik und seinen Arbeitstag vielleicht. Oder etwas über seine Beziehung zu Mark und die Entwicklung, die sie nahm. All das war in den Briefen geschildert sowie auch seine Gedanken und Hoffnungen und Ängste.
Aber nichts davon war von Bedeutung für das, was Adrienne Amanda zu vermitteln hoffte. Die Dinge, die sie vorbereitet hatte, würden ausreichen.
Und doch wusste sie, dass sie, sobald Amanda gegangen war, all die Briefe wieder lesen würde, und sei es nur, weil sie mit ihrer Tochter darüber gesprochen hatte. Im gelben Licht der Nachttischlampe würde sie mit dem Zeigefinger unter den Wörtern entlangfahren und jedes einzelne in sich einsinken lassen, denn sie bedeuteten ihr mehr als alles, was sie
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