Das Laecheln der Sterne
hätte gern gewusst, ob er schnell schrieb und die Worte, ohne dass er absetzen musste, aus seiner Feder flossen, oder ob er immer wieder abbrach und in die Ferne starrte und seine Gedanken ordnete. Je nachdem, was er geschrieben hatte, stellte sie sich Paul in unterschiedlichen Stimmungen vor, und manchmal saß sie mit geschlossenen Augen da, hielt den Brief in der Hand und versuchte seinen Geist zu erspüren.
Auch sie schrieb ihm Briefe, sie beantwortete seine Fragen und erzählte ihm, was sich in ihrem Leben ereignete. An solchen Tagen konnte sie ihn fast neben sich sehen. Wenn ihr ein Windzug durch das Haar fuhr, war es, als würde Paul ihr sanft mit einem Finger über die Wange fahren, und wenn sie das feine Ticken einer Uhr vernahm, war es wie das Schlagen seines Herzens, das sie hörte, wenn sie ihren Kopf auf seine Brust legte. Doch sobald sie den Stift niederlegte, kehrten ihre Gedanken wieder zu ihren letzten gemeinsamen Augenblicken zurück: wie sie sich auf der Kieseinfahrt in den Armen gehalten hatten, wie seine Lippen sanft ihre Wange geküsst hatten, wie darin das Versprechen lag, dass sie zwar ein Jahr 161
getrennt, den Rest ihres Lebens aber zusammen verbringen würden.
Paul rief auch hin und wieder an – wann immer er die Möglichkeit hatte, in die Stadt zu fahren –, und wenn Adrienne die Zärtlichkeit in seiner Stimme hörte, wurde es ihr eng ums Herz. Auch sein Lachen oder der Schmerz in seiner Stimme, wenn er sagte, wie sehr er sie vermisste, hatten diese Wirkung.
Er rief tagsüber an, wenn die Kinder in der Schule waren, und jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, verharrte Adrienne einen Moment und hoffte inständig, dass er es sein möge. Die Gespräche dauerten nicht lange, meistens sprachen sie keine zwanzig Minuten, aber zusammen mit den Briefen halfen sie ihr, die nächsten Monate zu überstehen.
In der Bibliothek kopierte sie alles über Ecuador, ob Geografie oder Geschichte – einfach alles, was ihr zwischen die Finger kam. Als in einer der Reisezeitschriften ein Artikel über die dortige Kultur veröffentlicht wurde, kaufte sich Adrienne ein Exemplar und saß stundenlang darüber, studierte die Fotos und lernte den Text fast auswendig, weil sie so viel wie möglich über die Menschen erfahren wollte, mit denen er dort arbeitete. Gegen ihren Willen überlegte sie manchmal, ob einige der Frauen ihn je mit dem gleichen Verlangen ansahen, das sie empfunden hatte.
Sie las auch auf Microfilm gespeicherte Zeitungsartikel und medizinische Zeitschriften, weil sie etwas über Pauls Leben in Raleigh erfahren wollte. Nie erwähnte sie in ihren Briefen oder im Gespräch, dass sie das tat – er schrieb so oft davon, dass er nicht mehr der Mensch sein wollte, der er damals gewesen war
–, aber sie war trotzdem neugierig. In einem Artikel, der im Wall Street Journal erschienen war, war ganz oben eine Porträtzeichnung von Paul abgebildet. In dem Artikel hieß es, er sei achtunddreißig, und als Adrienne das Gesicht betrachtete, gewann sie zum ersten Mal einen Eindruck davon, wie er als jüngerer Mann ausgesehen hatte. Sie erkannte ihn auf der 162
Zeichnung sofort, dennoch fielen ihr ein paar Unterschiede auf: Das Haar war dunkler und seitlich gescheitelt, das Gesicht faltenlos, der Gesichtsausdruck zu ernst und fast hart – so war er ihr nicht vertraut.
Auch im Raleigh News and Observer entdeckte sie einige Fotos von ihm – eins war auf einem Empfang bei dem Gouverneur aufgenommen, eins bei der Eröffnung des neuen Flügels des Duke Medical Center. Ihr fiel auf, dass Paul auf keinem der Fotos lächelte. So konnte sie sich Paul gar nicht vorstellen.
Ohne besonderen Anlass schickte er ihr im März Rosen ins Haus, und von da an bekam sie jeden Monat einen Strauß Rosen von ihm. Sie stellte sie in ihr Zimmer und nahm an, dass die Kinder das irgendwann bemerken und ihr Fragen stellen würden, aber sie bewegten sich in ihrer eigenen Welt und fragten nie.
Im Juni fuhr sie nach Rodanthe, wo sie ein langes Wochenende mit Jean verbringen wollte. Anfangs schien Jean nervös, als beschäftigte sie noch immer, was wohl der Anlass für Adriennes Traurigkeit beim letzten Besuch gewesen war.
Doch nachdem sie eine Stunde lang unbefangen geplaudert hatten, war Jean wieder ganz sie selbst. Adrienne ging ein paar Mal am Strand spazieren und hielt die Augen nach einer weiteren Schneckenmuschel offen, aber sie fand nicht eine, die nicht von den Wellen zerbrochen worden war.
Als sie nach Hause kam,
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