Das Lächeln der Toten • Ein Merrily-Watkins-Mystery
hat, und Jonathan neigt zu den schlimmsten Übertreibungen.»
«Ich denke», sagte Merrily vorsichtig, da sie sich an Janes Rat erinnerte, «dass wir in einer Stadt, deren Geschichte so lebendig ist, alle besondere Erfahrungen machen.»
«Ja.»
«Und auch, wenn ich Robbie Walsh nie kennengelernt habe …»
«Er konnte einem Szenen beschreiben … wie ein sehender Mensch sie Blinden erklärt. Er hatte die Namen auf den Plaketten, die an den alten Häusern hängen, so oft gelesen, dass er sie alle auswendig kannte. Die Stadt war in seinem Herzen, Mary, er wusste, wer in welchem Haus gelebt hatte, und er hat mir die Menschen beschrieben. Und er ist hierhergekommen und hat Marion beschrieben.»
«Ja? Wie sah sie aus?»
«Ziemlich klein. Braune Haare, braune Augen – leidenschaftliche, wütende Augen. Robbie war ein pubertierender Junge, er war kein Intellektueller, seine Begriffe waren schlicht. Er hat Marion geliebt, weil sie für all das stand, was man kaum noch findet. Sie … bestand aus Gefühlen. Aus starken Leidenschaften und Impulsen, verglichen mit den ganzen stumpfsinnigen, desinteressierten Kids, von denen er umgeben war. Spüren Sie Marion nicht, Mary? Jetzt? Hier?»
«Ich spüre ihre Verwirrung», sagte Merrily, und das stimmte. «Ich spüre ihre unbeherrschbare Wut. Und ihre Verzweiflung.»
«Wahrscheinlich hat sie es ungefähr um diese Uhrzeit getan», sagte Bell. «Sie hat den Mistkerl niedergemetzelt und ist gesprungen. Aus dem Fenster direkt über uns. Da gab es hier noch keinen Baum, nur Steine. Ihr Körper ist abgeprallt, als er aufkam, Knochen brachen, und schließlich ist sie zur Ruhe gekommen –»
«Zur Ruhelosigkeit», sagte Merrily.
«Da, wo wir jetzt sitzen, ist ihr das Blut aus dem Mund gelaufen.» Bells Stimme klang jetzt erregt, als wäre sie geölt worden. «Oh, aber Sie verstehen das, oder?»
«Marion verstehe ich. Marion ist leicht. Sie war die Betrogene und die Betrügerin. Sie hat den Feind hereingelassen. Sie hat keinen Ausweg gesehen, außer durch eins dieser Fenster zu springen. Jemima Pegler allerdings … das ist sehr viel komplexer. Genau wie Robbie Walsh. Dieser Freund von mir, der hat mich zu seiner Mutter gebracht, zu Robbies Großmutter. Weil sie gesagt hat, sie hätte ihn gesehen, im Haus und in der Stadt, und …»
«Ihr Freund hat Sie gebeten, seiner Mutter zu helfen, als Medium.»
«So in der Art. Sie hat gesagt, sie sieht Robbie in Spiegeln und in Schaufenstern. Und … im Wasser.»
«Sie ist ertrunken …»
«Ich war in der Nacht dort», sagte Merrily. «Und Sie sind an den Fluss gekommen, mit ein paar … Gruftis, wie es aussah.»
Bell starrte sie an und hob das an, was auf ihren Knien gelegen hatte – einen schwarzen Instrumentenkoffer, zu groß für eine Geige, zu klein für eine Gitarre.
«Und Sie schienen zu wissen, wer es war», sagte Merrily. «Wen sie im Wasser gefunden hatten.»
«Was wollen Sie denn damit …? Oh, ja, klar … Einer aus der Band hatte gehört, dass es Robbies Großmutter war. Ein paar von ihnen waren in der Stadt, und sie hatten gehört –»
«Was für eine Band?»
«Eine junge Band namens Le Fanu. Manchmal kommen die Musiker her. Sie sind von meiner Musik beeinflusst, und wir spielen manchmal am Wochenende zusammen. Sie … unterstützen mich, wenn Sie so wollen. Wir hängen zusammen rum, rauchen manchmal was und … stellen ein Album zusammen. Sehen Sie … ich höre immer mal wieder, dass ich die Stadt mit Gruftis überschwemme, aber es sind nur Le Fanu und ihre Anhänger.»
«Und … war von denen einer in eine Messerstecherei verwickelt?»
Im Unterholz auf der anderen Seite des Weges knackten Zweige. «Ja, ja … Das war ein Roadie, aber der arbeitet nicht mehr für Le Fanu. Das war keine große Sache, ich –» Sie umschlang den Koffer. « – Mir macht es nichts aus, wenn man mich für verrückt hält – ich bin verrückt –, aber ich schleppe hier keine Gewalt ein, verstehen Sie?»
Ihre Stimme brach, und sie zitterte.
«Sie zittern. Sie frieren.»
«Ich friere gern, das haben Sie doch bestimmt schon gehört. Ich mag es gern so kalt wie in einem Grab.»
«Ich wollte nicht –»
«Mary, schreiben Sie ein Buch über mich oder so?»
«Ich –» Merrily unterbrach sich, sie musste einmal durchatmen. Die Zigarette zwischen ihren Fingern war ausgegangen. Ihr Rücken tat langsam weh, und ihr Hintern war taub. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie die Wahrheit sagen. «Ich glaube einfach,
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