Das Lächeln des Cicero
dem
Nebenzimmer gehört, ich hätte seine Stimme nicht
erkannt.
Ich war schon
früher Zeuge solcher Verwandlungen gewesen, aber nur im
Theater oder zu bestimmten religiösen Anlässen, wo man es
gleichsam erwartet, von der Wandelbarkeit der menschlichen Natur
überrascht zu werden. Das gleiche mit eigenen Augen bei einem
Menschen zu sehen, den man zu kennen glaubte, war verblüffend.
Hatte Cicero die ganze Zeit gewußt, daß eine solche
Veränderung in ihm stattfinden würde, wenn es darauf
ankam? Oder Rufus und Tiro? Sie mußten es zumindest geahnt
haben, denn es gab keine andere Erklärung für ihr stets
ungebrochenes Vertrauen. Was hatten sie alle in Cicero gesehen, das
ich nicht hatte entdecken können?
Erucius hatte die
Masse mit Melodrama und Schwulst unterhalten, und der Pöbel
war zufrieden gewesen. Er hatte die Richter offen bedroht, und sie
hatten seine Beleidigung schweigend über sich ergehen lassen.
Cicero schien wild entschlossen, bei seinen Zuhörern wahre
Leidenschaft zu entfachen, und sein Hunger nach Gerechtigkeit war
ansteckend. Die Entscheidung, Chrysogonus gleich zu Beginn
anzugreifen, war ein kühnes Spiel gewesen. Bei der
bloßen Erwähnung des Namens waren Erucius und Magnus
deutlich von Panik ergriffen worden. Sie hatten offenbar lediglich
schwache Gegenwehr erwartet, ein ebenso weitschweifiges und
oberflächliches Plädoyer wie das ihrige. Statt dessen
stürzte sich Cicero kopfüber in die Geschichte und
ließ nichts aus.
Er beschrieb die
Lebensumstände des älteren Sextus Roscius, seine
Verbindungen in Rom und seine langwährende Fehde mit seinen
Vettern Magnus und Capito. Er beschrieb ihren verrufenen Charakter.
(Er verglich Capito mit einem vernarbten und ergrauten Gladiator
und Magnus mit dem Lieblingsschüler eines alten Kämpfers,
der seinen Lehrmeister an verbrecherischer Verwegenheit längst
übertroffen hatte.) Er nannte den genauen Tatort und die
Tatzeit des Mordes an Sextus Roscius und wies auf den eigenartigen
Umstand hin, daß Mallius Glaucia die ganze Nacht
durchgeritten war, um Capito in Ameria einen blutigen Dolch und die
Todesnachricht zu überbringen. Er ging näher auf die
Beziehung der beiden Vettern zu Chrysogonus ein; auf die illegale
Proskription von Sextus Roscius nach seinem Tod, nachdem die
Proskriptionen qua Gesetz längst beendet waren; auf den
zwecklosen Protest des Gemeinderates von Ameria; auf den Aufkauf
von Roscius’ Nachlaß durch Chrysogonus, Magnus und
Capito; auf ihren Versuch, Sextus Roscius den Jüngeren
auszuschalten, und auf seine Flucht zu Caecilia Metella in Rom.
Gleichzeitig erinnerte er die Richter an die Frage, die der
große Lucius Cassius Longinus Ravilla in Strafverfahren immer
wieder zu stellen pflegte: Cui bono?
Auch als er auf den
Diktator zu sprechen kam, scheute er sich nicht, die Wahrheit beim
Namen zu nennen; er schien beinahe süffisant zu lächeln.
»Ich bin der festen Überzeugung, ihr Richter, daß
all dies geschah, ohne daß der ehrenwerte Lucius Sulla davon
erfuhr, ja ohne daß er es überhaupt wahrnahm.
Schließlich bewegt er sich in völlig anderen
Sphären; nationale Angelegenheiten von höchster
Wichtigkeit beanspruchen seine Aufmerksamkeit, er ist
beschäftigt damit, die Wunden der Vergangenheit zu heilen und
zukünftige Bedrohungen abzuwehren. Alle Augen ruhen auf ihm;
alle Macht liegt in seinen festen Händen. Frieden zu schaffen
oder Kriege zu führen - er allein hat die Wahl und die Mittel.
Bedenkt die Schar der kleinen Schurken, die einen solchen Mann
umgeben, ihn beobachten und auf jene Gelegenheiten lauern, zu denen
seine Konzentration voll und ganz von anderen Dingen in Anspruch
genommen ist, so daß sie in die Lücke stoßen und
die Gunst des Augenblicks nutzen können. Sulla, der von
Fortuna Begünstigte, das ist er fürwahr, aber, beim
Herkules, es gibt niemanden, den Fortuna so sehr liebt, daß
sich in seinem riesigen Haus nicht irgendein unehrlicher Sklave,
oder schlimmer noch, ein gerissener und skrupelloser Ex-Sklave
verbergen könnte.«
Er warf einen Blick
auf seine Notizen und fuhr dann fort, jeden Punkt von
Erucius’ Rede zu widerlegen und in seiner Banalität
lächerlich zu machen. Auf Erucius’ Argument, daß
Sextus Roscius’ Verpflichtungen auf dem Lande ein Zeichen der
Mißstimmung zwischen Vater und Sohn gewesen seien, entgegnete
er mit einem langen Exkurs über den Wert und die Ehre des
ländlichen Lebens - ein Thema, mit dem man bei den
verstädterten Römern immer auf offene Ohren
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