Das Lächeln des Leguans
blickt hinaus, als würde sie eine unwirkliche Landschaft betrachten, die für sie in unerreichbare Ferne gerückt ist.
*
Heute Morgen fühlte sie sich kräftiger als sonst und wollte nach dem Frühstück das Grab meines Vaters aufsuchen. Ich lief
rasch auf den Hügel, um mich zu vergewissern, dass von unseren Arbeiten keinerlei Spuren geblieben waren, dann fuhr ich Mama
in ihrem Rollstuhl dorthin. Wir verbrachten eine ganze Weile auf dem kahlen Friedhof, wobei wir inmitten der wirbelnden Blätter
nur in Gedanken miteinander kommunizierten. Das Auge meines Vaters blinzelte in der tief stehenden Sonne, die unsere Stirnen
golden färbte. Seine Gegenwart war überall in den Manifestationen des unumschränkt herrschenden Herbstes zu spüren, nur merkte
Mama nichts davon. Papas Tod schien sich endgültig in ihr einzunisten. Das Problem ist nicht länger der physiologische Aspekt
ihrer Genesung, sondern deren psychische Dimension; ihre Seele ist noch lange nicht geheilt. Wie lässt sich dieses Leichentuch,
in das ihr Herz gehüllt ist, bloß entknoten?
*
Luc lernt dazu. Er hat sich vorgenommen, Mama von ihrem Kummer abzulenken. Er, der Pierrot der Strände, hat beschlossen, sie
zum Lachen zu bringen, und taucht nur noch verkleidet in ihrem Zimmer auf. Er trägt einen Lampenschirm oder eine Salatschüssel
auf dem Kopf, formt aus seinen Socken Elefantenohren und versucht, all die verrückten Charaktere, die er aus dem Fernsehen
kennt, zu imitieren. Er wäre so gern Luc der Clown, derMeister der Kapriolen und des Humors, dabei ist er in Wahrheit eher bemitleidenswert und macht mehr denn je seinem Spitznamen
»Mongole« alle Ehre. Am erstaunlichsten ist, dass Mama über seine Mätzchen schmunzelt. Wenn sie hin und wieder sogar schallend
lacht, ist das Musik in unseren Ohren. Sie tut dem Armen natürlich nur einen Gefallen, weil er keine Mutter hat. Mama weiß,
dass er mit ihrer Hilfe seinen Durst nach Mutterliebe stillt, und sie spielt das Spiel mit. Sie lässt sich darauf ein, in
Lucs Theaterstück für die Hauptdarstellerin einzuspringen, die im ersten Akt verschwunden ist.
*
Sie nennt ihn ihren kleinen Clown, und ich treffe ihn immerzu in ihrem Zimmer an, wo er sich beflissen über das Fußende ihres
Bettes beugt. Er sagt, er wolle ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen, dabei ist es nur ein Vorwand, um ständig in ihrer
Nähe zu sein und sie nach Belieben anzuhimmeln. Er zeichnet für sie Fische, Seesterne, Algen, Sirenen.
Mama staunt über sein Talent, und ich muss zugeben, dass die Eifersucht an mir nagt, weil ich ein miserabler Zeichner bin.
Ihre Beziehung hat inzwischen einen Grad an Intimität erreicht, der für mich eine harte Prüfung ist, dabei kann ich es ihnen
nicht verdenken. Hat Luc es denn nicht verdient, dass ich diese Mutter, zu deren Wiedergeburt er so viel beigetragen hat,
ein wenig mit ihm teile? Und er zeichnet wirklich gut; dafür kann erschließlich nichts. Außerdem sind ihre Unterhaltungen nach wie vor völlig harmlos.
*
Er hat für Mama ein Porträt von Chantal gezeichnet und sie nach ihr ausgefragt. Diese eigentümliche Marotte lässt ihn einfach
nicht los. Man könnte meinen, er sei darüber hinweg, dabei ist sie nach wie vor da, direkt unter der Oberfläche seiner Seele,
und wartet nur darauf, hervorzubrechen. Mama musste ihn leider enttäuschen: Sie hat seine Mutter nicht gekannt, da sie zum
Zeitpunkt ihres Todes nicht im Dorf gewohnt hat, sondern an der Universität war. Chantals Gesicht war ihr demnach unbekannt,
aber sie hat Luc gefragt, ob er mütterlicherseits nicht noch weitere Verwandte hat: irgendwelche Onkel und Tanten, Vettern
und Cousinen oder gar Großeltern. Luc weiß es nicht. Sein Vater hat nie darüber gesprochen und er selbst natürlich nie danach
gefragt. Als Mama jedoch anbot, sich für ihn beim Schweinehund zu erkundigen, lehnte er sogleich ab. Sie ließ nicht locker,
da sie es für wichtig hält, dass er Bescheid weiß, woraufhin Luc ihr versprach, sich noch am selben Abend darum zu kümmern.
Dem Armen wurde heiß und kalt. Die Vorstellung, dass Mamas Reinheit durch bloßen telefonischen Kontakt zur abgründigen Grobheit
des Schweinhundes befleckt werden könnte, ist ihm ein Graus.
*
Dem Schweinehund waren die Fragen seines Sohnes offenbar nicht genehm, denn Luc erschien heute Morgen mit aufgeplatzter Lippe.
Er gab vor, unglücklich gestürzt zu sein, doch nahm ihm
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