Das Lächeln des Leguans
aufgelöst. Wahrscheinlich hat er sich in der Bucht versteckt.
*
Mama versucht, Luc zu zähmen. Sie grüßt ihn, wann immer er an ihrer Tür vorbeigeht, und schenkt ihm jedes Mal, wenn er auftaucht,
ein Lächeln, aber er lässt sich nicht so leicht aus der Reserve locken. Das Problem liegt darin, dass meine Mutter in seinen
Augen ein übernatürliches Wesen ist, eine Art Engel, von dem er sich geblendet fühlt und dem er lieber aus einiger Entfernung
huldigt. Er traut sich nicht in ihre Nähe. Er fürchtet, siezu stören, eine Beleidigung für ihre Augen zu sein. Stattdessen bringt er mir immer wieder mystische Kiesel und Glasbehälter
mit farbigem Sand, mit der Bitte, sie auf ihren Nachttisch zu stellen. Diese Geschenke besitzen offenbar magische Heilkräfte,
denn sie wirken beruhigend auf Mama. Sie scheinen ihren Schmerz zu lindern, sodass sie gelassener über Papa reden kann. So
trägt Luc auf seine Weise dazu bei, ihre Trauer zu mildern …
19
Die Tage werden kürzer, die Nächte kühler. Der Himmel verdunkelt sich, lastet bleiern auf unseren verdutzten Kinderköpfen,
und wir müssen uns damit abfinden, denn der Herbst ist gekommen mit seinem launischen Wetter und seinen jähen Stimmungsschwankungen,
seinem strömenden Regen, seinen monochromen Stunden, seinen alten Filmen und Chips am Nachmittag, seinen nicht enden wollenden
Monopoly-Partien, während es auf das Dach prasselt.
Morgen fängt der Unterricht wieder an, was höchst unerfreulich ist. In diesem Jahr wechseln Luc und ich die Schule, denn die
Oberschule streckt ihre einladendenFangarme nach uns aus. Wir werden nach Villeneuve gehen. Offenbar haben wir keine andere Wahl, so ist es eben.
*
Jeden Morgen und Abend nehmen wir den gelben Bus von Pollux, einem ehemaligen Hippie, der unterwegs immer guten Rock hört.
Die Oberschule ist so etwas wie ein gewaltiger Atombunker, in den sich zweitausend Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt einschließen
und Wissen horten, um dann beim Ertönen einer schrillen Klingel in Horden weiterzuziehen. Ich denke, ich werde mich daran
gewöhnen, aber Luc reagiert panisch. Er blickt verstört auf seinen Stundenplan und irrt sich regelmäßig im Raum. Er wandert
gegen die Strömung durch die Flure und wird ständig angerempelt. Wie sehr vermisst er seinen Heizkörper an der hinteren Wand
der Gemeinschaftsklasse und das schöne alte Fenster mit Blick aufs Meer, an dem er sich nicht sattsehen konnte! In der Oberschule
gibt es nur wenige, schmale Fenster, durch die man bloß auf ähnlich eintönige Szenerien schaut. Als einer, der mit frischer
Luft gestillt und von der Brandung in den Schlaf gewiegt wurde, verabscheut Luc ganz instinktiv diesen Beton, dieses Neonlicht,
dieses Zusammengepferchtsein. Er wird von Ängsten geplagt und zieht sich zurück in sein Schließfach, eine Art vertikalen Sarg,
in dem er im Ftan-Jargon vor sich hin murmelt. Es ist gar nicht so einfach, ihn daraus hervorzulocken. Er hatbereits angefangen, die Tage auf seinem Kalender durchzustreichen. Das Schuljahr wird lang werden.
*
Zu dumm, dieser Schulanfang. Am schlimmsten ist der Mangel an Zeit. Um Mama können wir uns viel weniger kümmern. Und Gelegenheiten,
uns zur Bucht aufzumachen, bieten sich kaum noch. Den Leguan können wir nur samstags aufsuchen. Meine Zuversicht leidet darunter.
Jetzt, da der heilige Odem des Wunders verflogen ist, setzt die Vernunft alles daran, die Oberhand zu gewinnen, und gelegentlich
frage ich mich, ob tatsächlich Magie im Spiel ist oder ob ich mir alles nur eingebildet habe. Beim Anblick der guten alten
Echse verfliegen jedoch alle Zweifel. Der Leguan hat diese Art, einen zu hypnotisieren. Ich muss ihn einfach immer wieder
berühren, um zu wissen, wie er sich anfühlt. Ich betaste seinen geologischen Kamm, seinen abgewetzten Drachenschwanz und seine
geschwärzten Krallen, um erneut dieses Prickeln in den Fingerspitzen, dieses elektrische Kitzeln, das dem Schwachstrom einer
Batterie gleicht, zu spüren.
*
Der Saurier verzeiht uns unser immer selteneres Erscheinen und versorgt mich nach wie vor mit frischen Träumen. Er lässt mich
spiegelnde Lagunen unter nächtlichen polynesischen Himmeln erahnen, verrückte, weit aufgerissene Vogelaugen, die mich wie
einen verirrten Wurmanstarren, und plötzlich sehe ich eine Insel vor mir, eine von den Fluten umspülte Klippe; ich tauche hinab in die Tiefe,
wage mich immer weiter vor,
Weitere Kostenlose Bücher