Das Lächeln des Leguans
mich vor die Tür. Dann habe ich noch mein Glück
bei den Desrosiers und schließlich bei den Keenes probiert, bin aber nur auf eisiges Schweigen gestoßen. Sie tun so, als wüssten
sie nichts. Als hätten sie keine Ahnung. Die Sachestinkt, was Luc in seinen Vermutungen nur bestärkt, aber der Geist der schönen Chantal ist nach wie vor nicht greifbar. Luc
wirkt ganz niedergeschlagen. Er beharrt darauf, dass sie am Leben ist, und würde alles darum geben, zu erfahren, wo sie sich
aufhält. Jetzt bleibt uns nur noch der Leguan mit seinem gutmütigen Lächeln, seinen korallenartigen Träumen, die mein träger
Geist nicht zu durchdringen vermag. Luc hat ein Porträt seiner Mutter auf den Altar gestellt und wartet auf eine Idee, einen
Traum. Wer ist sie? Wo mag sie nur stecken? Und wo mag Luc wohl sein, wenn er vor dem Spiegel steht, seine Gesichtszüge ergründet,
bis ihm fast die Augen herausfallen, und dabei in der Ftan-Sprache vor sich hin murmelt? Er scheint sich von diesen autohypnotischen
Sitzungen eine Art Erleuchtung zu erhoffen. Denkt er, sein Spiegelbild würde womöglich lebendig werden und ihm verraten, wo
sich seine Mutter verbirgt? Spieglein, Spieglein an der Wand …
22
Die Aussicht auf einen frühen Wintereinbruch ließ mich einen möglichen Rückfall befürchten. Ich hatte Angst, Mama könne vielleicht
an vergangene, noch immer schmerzlich präsente kalte Jahreszeiten erinnert werden, aber inzwischen bin ich beruhigt, weil
der Temperatursturz ihr offenbar nichts ausmacht. Vielmehr scheint er sie zu beflügeln: Ihr Rollstuhl kommt nur noch bei unseren
Grand-Prix-Rennen und anderen ballistischen Experimenten zum Einsatz. Seitdem sie sich wieder auf den Beinen halten kann,
spaziert Mama tagtäglich über den gefrorenen Strand. Ihre Schritte werden immer länger und ihre Wangen röten sich in der eisigen,
rauen Brise, dievon Labrador herüberweht. Sie besteht darauf, das Haus ohne Mütze, Schal und Handschuhe zu verlassen. Sie hat Hitzewallungen,
und Großmutter läuft ständig mit einem Schultertuch hinter ihr her, dreht die Thermostate wieder auf und schließt die Fenster,
die sie überall sperrangelweit offen stehen lässt. Ihr Aufenthalt in der klirrenden Kälte des Kilometers 54 hat sie anscheinend
irgendwie immunisiert.
*
Zunächst sind die Schlaglöcher zugefroren, dann haben uns die ersten Schneefälle unter sich begraben. Darauf hatte Großvater
nur gewartet: Seine Schneefräse stand vollgetankt bereit, doch Luc bot ihm an, alles freizuschaufeln, die Einfahrt inklusive.
Er beteuerte, das sei beim Schweinehund immer seine Aufgabe gewesen und zu einer Gewohnheit geworden, einer Art Wintersport,
der ihm viel bedeute. Da ihm so sehr daran gelegen zu sein schien, ließ Großvater ihn gewähren. Seine Schneefräse wird er
sich für besondere Gelegenheiten, für richtige Unwetter aufsparen.
*
Lucs Angebot war ernst gemeint. Als ich zum Frühstück herunterkam, war der abgerissene Yeti schon draußen und schlug sich
wacker. Da die Auffahrt dreißig Meter lang ist und tief verschneit war, hatte ich das Gefühl, ihm helfen zu müssen. Ich gesellte
mich mit meiner Schaufelzu ihm, und zu zweit war die Arbeit im Nu erledigt. Heute Abend schneit es allerdings schon wieder, und ich bereue bereits
meinen Einsatz vom Vormittag. Habe ich dadurch nicht einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen?
*
Die tanzenden Schneeflocken machen Mama ganz nervös. Wie jedes Jahr ist sie vom Ski-doo-Fieber, jener Malaria des Nordens,
befallen, nur lassen wir sie auf keinen Fall je wieder auf eine dieser verfluchten Maschinen steigen. Um sie abzulenken, habe
ich ihr vorgeschlagen, doch lieber ihre Schlittschuhe hervorzuholen, und nach dem Abendessen sind wir auf Kufen über die Eisfläche
an der Schule geflitzt. Wir wichen den zwergenhaften Astronauten und Puckspielern aus, wirbelten unter den Scheinwerfern wie
olympische Clowns umher und tanzten zu scheppernder Musik, während Luc hinter der Seitenbande vor Ungeduld beinah verging.
Er kann nicht Schlittschuh laufen und misstraut dieser dubiosen Aktivität zutiefst. Besorgt verfolgte er jede unserer Bewegungen
und ließ meine Mutter nicht aus den Augen, zweifellos aus Furcht, sie könne auf der spiegelglatten Fläche ausrutschen und
wie eine fragile Nippesfigur in tausend Scherben zerspringen.
*
Trotz des Schattens, den die Abwesenheit meines Vaters auf alles wirft, stehen
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