Das Lächeln des Leguans
über furchterregende Kliffe, erhasche einen Blick auf faszinierende unterseeische Szenerien. Es
sind lauter noch nie da gewesene unerklärliche Träume, in denen das Meer eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Bin ich dabei,
mich ebenfalls in einen Tritonen zu verwandeln? Lässt der Leguan die Sehnsucht nach seinen Geburtsinseln in meiner Seele aufflackern
oder ist es eher so, dass mein Freund auf mich abfärbt? Wahrscheinlich ergießen sich Lucs Träume in ihrem Überfluss in die
meinen. Denn seit Schulanfang nimmt seine Traumtätigkeit ozeanische Dimensionen an. Seine Tauchtouren sind überwältigend,
seine Exkursionen sagenhaft. Auf dem Rücken riesiger Mantas fliegt Fngl über die Gipfel der salzigen Berge und trägt mit protoplasmischen
Wesen Zweikämpfe aus; er wagt sich auf der Suche nach der »Stadt der Ranken« bis in die Tiefen unterseeischer Canyons vor,
und manchmal, gegen Ende eines Traums, glaubt er in der Ferne der Fluten jenen violetten Glorienschein, der von den Lichtern
der Stadt ausgeht, zu erahnen. Dann spürt er, dass die wandernde Stadt greifbar nah ist; die Fische künden mit ihrem Tanz
davon, dass sie erst kürzlich vorübergetrieben ist, die Wogen erbeben noch immer vom Raunen der Muscheln, und Fngl weiß, dass
es nicht mehr lange dauern wird, bis er sie mit eigenen Augen sieht. Auch Luc lebt für nichts anderes mehr. Seine Suche nach
der schönen Stadt Ftanist dringlicher, lebensnotwendiger denn je, seitdem die Schule wieder angefangen hat. Ich glaube sogar, dass sein seelisches
Gleichgewicht davon abhängt. Träumen ist für Luc schon immer ein natürliches Ventil gewesen, eine Art und Weise, der verabscheuungswürdigen
Realität zu entrinnen, doch nichts von dem, was er bisher erlebt hat, lässt sich mit den tagtäglichen Torturen in der Schule
vergleichen. In seinen Augen ist sie das genaue Gegenteil von Ftan, das albtraumhafte Pendant zum herrlichen unterseeischen
Reich. Nacht für Nacht in seine Tritonenhaut zu schlüpfen, wird zu einer Art Droge, einem Schmerzmittel, das er braucht, um
durchzuhalten, und zwar in immer größeren Dosen.
*
Jeder Vorwand ist ihm recht, um der grässlichen Schule zu entkommen. Anstatt am Unterricht teilzunehmen, stiehlt er sich in
die Stadt davon, und ich folge ihm wie ein Idiot. Zum Glück hat Großvater mich gebeten, die Briefe im Postbüro für ihn zu
sortieren; so kann ich die Benachrichtigungen über mein Fernbleiben vom Unterricht abfangen und komme um Strafpredigten herum.
Luc kümmert das nicht, denn der Schweinehund lässt die Schreiben der Schule direkt in den Mülleimer wandern, wie all seine
Rechnungen auch, ohne sie auch nur zu öffnen.
Wir genehmigen uns fantastische außerschulische Eskapaden. Wir beginnen mit einer Stippvisite in derSpielhalle, doch Luc steuert ganz instinktiv das Meer an. Im Nu sind wir am Hafen, inmitten von umherschlendernden Matrosen,
die in das Viertel ausschwärmen, und schwelgen in den im Vorbeigehen aufgeschnappten Brocken in griechischer oder italienischer
Sprache oder in fremd anmutenden Lauten aus Portugal oder Japan. An der Ecke der Rue Maltais befindet sich das
Béluga
, ein Laden, in dem Taucherzubehör verkauft wird. Angesichts der schwindelerregenden Preise für Taucheranzüge verzieht Luc
sein Gesicht. Zum Trost treiben wir uns in den Docks herum und atmen den berauschenden Duft von Jod und frischem Eisen, von
Erdöl, Fisch und Sternenhorizonten ein. Wir schlendern über die Kais, erkunden die Schuppen. Vor allem aber bestaunen wir
die Schiffe. Wir stellen uns auf die mit Guano beklecksten Poller, schätzen die Tonnage der Frachter und singen ihre exotischen
Namen. Dann gehen wir zum Vieux Quai, um die Rückkehr eines Krabbenkutters oder eines müden Reihers zu beobachten. Wir blicken
den Fischern über die Schulter und erspähen in den goldbraunen Tiefen das graugrüne Ballett der Stinte und Schmerlen. Großmütig
werfen wir die dümmlichen Seeteufel ins Wasser zurück, die sich unermüdlich über die für edlere Fische vorgesehenen Köder
hermachen.
20
Der Herbst offenbart seine Farbenpracht, und Mama bekommt die ihren allmählich zurück. Wir haben einen Rollstuhl gemietet,
und ich schiebe sie unter Lucs eifersüchtigen Blicken herum, dabei ist ihr nicht wirklich nach Bewegung zumute. Meistens bittet
sie mich, sie ans Fenster zu stellen, dann liest sie Gedichte von Supervielle, von Nelligan. Oder sie sitzt einfach nur da
und
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