Das Lächeln meiner Mutter
habe. Er sagte uns, sie habe oft von uns gesprochen, sie sei stolz auf uns gewesen, wir seien ihr Lebenssinn gewesen.
Mehrere Wochen lang benutzte ich Luciles Dauerkarte für den Nahverkehr (die Abbuchung war erfolgt, bevor ihr Konto geschlossen wurde) und spürte dabei eine seltsame Genugtuung: In den Augen des RATP , der die Fahrten erfasst, nahm Lucile die Metro, fuhr sie durch ganz Paris, lebte sie noch.
Jede Nacht hatte ich wieder das Bild von meiner Mutter in ihrem Bett vor Augen, ich sah wieder ihr blondes Haar und ihre schwarze Strickjacke, ihren zur Wand gekehrten Körper; sobald ich mich auf die Seite drehte, in die Position, in der ich sie gefunden hatte, kehrte das Bild zurück und nahm mir den Atem, ich sah wieder ihre blauen Hände, die Wasserkaraffe und das Glas, jede Nacht konnte ich nicht anders, als mir Lucile an jenem Freitag, dem 25 . Januar vorzustellen, in ihre Decken gerollt, allein in ihrer kleinen Wohnung. Ich stellte mir die langen Minuten vor, bevor sie bewusstlos wurde, ohne dass jemand da gewesen wäre, der ihr über das Haar gestreichelt oder ihr die Hand gehalten hätte, und ich weinte still, Tränen, die nach Kindheit schmeckten, Tränen, denen der Abschied vorenthalten geblieben war, ich drehte und wälzte mich und fand keinen Schlaf.
Fotos, Briefe, Zeichnungen, Milchzähne, Muttertagsgeschenke, Bücher, Kleidungsstücke, Nippes, Kinkerlitzchen, Papiere, Zeitungen, Hefte, getippte Manuskripte, Lucile hatte alles aufgehoben.
Als wir damit fertig waren, den unglaublichen Trödel in ihrer Wohnung zu sortieren, veranstalteten wir einen Tag der offenen Tür, damit jeder einen Gegenstand, ein Schmuckstück oder einen Ziergegenstand zur Erinnerung an Lucile mitnehmen konnte. Alles Übrige war für den Emmaus-Verein bestimmt.
Mit all den anderen Leuten kamen auch meine Kinder, die sich freuten, Lucile grünes Refugium ein letztes Mal zu sehen, ich wollte, dass sie sich zur Erinnerung einige Spielsachen aus der Holzkiste aussuchten, die Lucile im Laufe der Jahre für sie gefüllt hatte.
Sie fuhren dann mit meiner Freundin Mélanie weg, Mélanie nahm in ihrem Wagen die Kartons mit, die ich nicht in der Metro hatte transportieren können. Sie fuhren bei ihr vorbei, um einige Kisten in ihrem Keller abzustellen (ich hatte nicht genug Platz dafür), und brachten mir dann die Fotos, Pflanzen und wenigen Gegenstände, die ich behalten wollte, nach Hause.
Wir trafen uns unten vor dem Haus, und ich machte den Kofferraum des Wagens auf. Auf den Tüten und Kartons prangte das Schild »Rasen betreten verboten«, das in Luciles Wohnanlage gestanden hatte, am Stiel klebte noch Erde. Auf Bitten meiner Kinder hatte Mélanie, die vor Grenzüberschreitungen nicht zurückschreckt, es ausgerissen.
Meine Tochter erklärte mir die beabsichtigte Hommage, als wäre sie das Natürlichste der Welt.
»Grand-mère-Lucile wollte es klauen, deshalb haben wir es gemacht.«
[home]
A ls ich einige Monate nach ihrem Tod Luciles Steuererklärung ausfüllen musste, entdeckte ich, dass ihre monatliche Rente, nach Reklamation und Neufestsetzung, sechshundertfünfzehn Euro fünfzig betrug.
Lucile zahlte zweihundertzweiundsiebzig Euro Miete, die Differenz war leicht berechnet.
Sie wäre lieber krepiert, als uns um irgendetwas zu bitten,
sagte ich mir, und dann dachte ich, dass sie genau das getan hatte, und weinte sehr.
Dieser Gedanke kommt mir noch oft in den Sinn.
Als wir Luciles Wohnung ausräumten, behielt ich das Radio, auf dem sie eingeschlafen war, ein kleines Transistorgerät, das ich ihr einige Jahre zuvor geschenkt hatte. Ich hatte erst gezögert, es zu nehmen, Luciles rechte Wange und ihr Ohr hatten darauf gelegen, als ich sie fand. Schließlich reinigte ich es und stellte es, da ich noch nicht wusste, was ich damit anfangen würde, vorläufig in eine Ecke in meinem Wohnzimmer.
Wochenlang schaltete sich Luciles Radio zu verschiedenen Zeiten immer wieder von selbst ein. Zunächst war ich sehr erschrocken und dachte, Lucile gebe mir Zeichen, dann suchte ich vergeblich nach dem geheimnisvollen Mechanismus, der die Stromzufuhr auslöste.
Auf einem engen und klar umgrenzten Bereich rund um einen der Reglerknöpfe fand ich eine nicht identifizierbare dünne braune Haut, die möglicherweise von einem Speiserest herrührte.
Ich wunderte mich, dass ich sie bei der ersten Reinigung mit alkoholgetränkter Watte übersehen hatte, und rieb sie noch einmal weg.
Die bräunliche Spur kam wieder.
Ich
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