Das Lächeln meiner Mutter
kleinen blauen Fee. Am nächsten Morgen ist er bereit, mit ihr in die Sonntagsmesse zu gehen. Sie sind verliebt. So erwählt Georges, der so viele Körper gestreichelt hat, Liane, die so ziemlich gar nichts über das Leben weiß. Ich glaube, er ist klug genug, in ihr die Frau zu erkennen, die ihn nie verraten, die ihm mit Leib und ihrer großen, großzügigen Seele ergeben bleiben und in ihm sein ganzes Leben lang nur den brillanten, unkonventionellen Mann sehen wird, den sie geheiratet hat.
Zurück in Gien, bittet Liane ihre Eltern um die Erlaubnis, mit Georges in einen Briefwechsel zu treten. Sie trifft ihn mehrere Male während ihrer Besuche in Paris, wo sie regelmäßig Geigenstunden nimmt. Sie heiraten im September 1943 in Pierremont, gefeiert wird im Haus meiner Großeltern, das die Deutschen endlich verlassen haben. Da Georges keinen Sou hat, leiht ihm ein Nachbar ein etwas zu großes Jackett für die kirchliche Hochzeit, und seine künftige Schwiegermutter schenkt ihm einen Anzug für die Eheschließung im Rathaus. Georges heiratet also, nicht ohne Sorge, eine Frau, mit der er noch nie geschlafen hat und von der er, wie er anmerkt, nicht einmal die Brüste gesehen hat. Ihre kurze Hochzeitsreise (ein paar Tage irgendwo in der französischen Provinz) erleichtert ihn: Liane zeigt ein
gewisses Temperament.
Dann erzählt Georges, wie sie sich in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Paris einrichten und ihr gemeinsames Leben beginnen.
Ich hörte die gesamte Kassette 21 , gefesselt von Georges Erzählung und seiner Art, zwischen Detail, Anekdote und Analyse hin und her zu wechseln und zwischen zwei Abschweifungen für Spannung zu sorgen. Georges sprach, wie er schrieb: klar, präzise, strukturiert. Ich hätte ohne weiteres fünf oder sechs Bänder überspringen können, um direkt zu dem Zeitraum zu gelangen, der mich interessierte, nämlich Luciles Kindheit. Stattdessen hörte ich, ein Heft auf dem Schoß oder in Reichweite, mehr als zehn Tage lang Kassetten, ich drehte sie eine nach der anderen um und ging bis ans Ende.
Später, kurz vor einem Abendessen, bei dem ich Violette wiedersehen würde, erzählte ich ihr endlich von den drei fehlenden Kassetten. Was immer der Grund dafür sein mochte, es war ja nicht so schlimm, weil sie noch die Originalaufnahmen hatte. Ich bat sie um die fehlenden Kassetten, und sie war bereit, sie mir zu geben. Der Gedanke, dass Lucile sie vielleicht zerstört oder verschwinden lassen hatte, ließ mich nicht los.
Kassette 18 beginnt also in dem Augenblick, als Georges seine Stelle verliert, weil
Toute la France
ihr Erscheinen einstellt. Er sucht nach einer anderen Zeitung, bei der er arbeiten könnte. Er schreibt einen in seinen Augen brillanten Artikel über die Pariser Jugend und bringt ihn persönlich zu
Révolution nationale,
einer kollaborierenden Wochenzeitung, in der Drieu la Rochelle und Brasillach schreiben. Ihr Leiter, Lucien Combelle, ist von dem Artikel angetan und will ihn in zwei Teilen veröffentlichen. Danach bietet er Georges eine regelmäßige Kolumne über das Pariser Leben an. Georges nimmt das Angebot an, gibt seiner Kolumne den Titel »Aimer, boire et chanter« – Lieben, Trinken, Singen – und verbringt von da an sehr viele Abende in Music-Halls und Varietés. Einige Wochen später wird Georges auf Combelles Bitte hin Redakteur der
Révolution nationale.
Er bleibt es, bis die Zeitung aufgelöst wird. Und zu dieser Zeit begegnet er Liane.
Die drei fehlenden Kassetten betreffen vor allem Georges’ Berufsleben unter der deutschen Besatzung: seine Arbeit bei
Révolution nationale,
seine an Faszination grenzende Hochachtung vor Combelle, dessen Kühnheit und Anstand er rühmt, die vielen Begegnungen (unter anderem mit Brasillach), die ihm die Zeitung ermöglicht. Georges erzählt, wie man Combelle, der sich nach der Befreiung weigerte, aus Frankreich zu fliehen, verhaftete, zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilte und dann 1951 begnadigte.
Georges’ Arbeit bei
Révolution nationale
ist kein eigentliches Familiengeheimnis. Alle wissen es, doch alle scheinen es ein wenig vergessen zu haben. Einige haben sich gefragt, wie sie Georges’ Haltung verstehen sollten, und nach Antworten gesucht. Niemand unter Luciles Geschwistern scheint mit ihm über das Thema gesprochen zu haben, das er gern mied, doch scheint auch niemand bislang ein endgültiges Urteil über Georges’ Mitarbeit an dieser Zeitung gefällt zu haben.
Soweit ich weiß,
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