Das Lächeln meiner Mutter
betrachteten ihn die meisten seiner Kinder (deren politische Ansichten den seinen zum Teil radikal entgegengesetzt waren) als Reaktionär. Als ich alt genug war, um mich für die Welt zu interessieren, war Georges bereits ein verbitterter und völlig desillusionierter Mann, der alles mit derselben Schärfe geißelte: die geschriebene Presse, das Fernsehen, die revolutionäre Linke, die Toskana-Linke, die – demagogische oder wohlmeinende – heuchlerische Rechte, den überall auf den Landstraßen auftauchenden Kreisverkehr, das staatliche Erziehungswesen, die Sänger ohne Stimme, die Fernsehmoderatoren mit ihrer verquasten Ausdrucksweise, all die
irgendwie
und
hinsichtlich
und sonstigen Sprachticks, und natürlich die Jugendlichen aller Art und aller Zeiten. Doch so weit meine Erinnerungen zurückreichen, waren die beiden einzigen Themen, die bei Familienessen um jeden Preis vermieden werden mussten, die Politik und der französische Film (später sollte noch der pasteurisierte Camembert hinzukommen).
Und dennoch setzte sich Georges, so ernüchtert er auch sein mochte, bis zu seinem Lebensende für die entlegensten und verzweifeltsten Anliegen ein.
Auf den Bändern nach den fehlenden Kassetten kommt Georges auf seine Haltung während des Kriegs zurück und versucht sich, auch wenn er es nicht zugibt, zu rechtfertigen.
Er spricht nicht über die Unterhaltungen, die er damals vielleicht mit seinem eigenen Vater geführt hat. Der nämlich weigerte sich, nachdem die Zeitung
La Croix du Nord,
bei der er arbeitete, ihr Erscheinen eingestellt hatte, für das von der deutschen Zensur kontrollierte
Journal de Roubaix
zu arbeiten, und frequentierte mehrere Monate lang die Armenküche.
Nach der Befreiung braucht Georges in seinem Unbehagen, das er sich beim Namen zu nennen weigert, mehr als ein Jahr, bis er sich vor dem Säuberungsausschuss um seinen Presseausweis bewirbt. Er begründet es damit, dass er denen den Vortritt lassen müsse, die während der Besatzung keine Arbeit gehabt hätten. Sein Dossier wird geprüft, und er erhält den Ausweis, so dass er nun wieder seinen Beruf ausüben kann. Georges erwähnt die Möglichkeit, dass François Chalais ihm vielleicht geholfen habe. Eine Zeit später, auf einer anderen Kassette, in seinem Bericht über die Nachkriegsjahre, kommt Georges ein letztes Mal auf seine Tätigkeiten während der Besatzungszeit zurück und stellt sich diese unglaubliche, beschönigende Frage:
»War es angebracht, für eine Zeitung zu arbeiten, die
Révolution nationale
hieß und keine Résistance-Zeitung war? Recht überlegt …«
Einige Wochen lang fragte ich mich, ob ich diese Dinge auf irgendeine Weise zur Sprache bringen sollte oder ob ich annehmen sollte, dass sie nichts mit meinem Thema zu tun hätten. Konnte Georges’ Haltung während des Kriegs für Luciles Leid eine Rolle spielen? Auf diese Hypothese kam ich wegen der fehlenden Kassetten (Lucile hatte schon immer einen Sinn dafür, Dinge symbolisch verschwinden zu lassen oder anderen nicht unbedingt verständliche kodierte Botschaften zu inszenieren), aber auch unter dem Einfluss des von Gérard Garouste herausgebrachten Buches
L’Intranquille
[2]
.
Lucile und Garouste haben einige Gemeinsamkeiten, zuallererst eine Krankheit, die lange manisch-depressive Psychose hieß, jetzt jedoch als bipolare Störung bezeichnet wird. Ich hatte dieses Buch einige Monate zuvor gelesen, als ich mich mit dem Gedanken trug, über meine Mutter zu schreiben, mich aber noch nicht dazu entschließen konnte, und es beeindruckte mich sehr. Der Maler spricht in diesem Buch über die Gestalt seines Vaters, eines eingefleischten und krankhaften Antisemiten, der sich an jüdischem Eigentum bereichert hat. Der vage Schrecken und die Scham, die Garouste über seinen Vater empfindet, haben sehr zu seinem Leid beigetragen und scheinen ihn lange verfolgt zu haben.
Soweit ich weiß, war Georges weder Antisemit noch Faschist. Ich habe aus seinem Mund nie ein Wort zu diesen Themen gehört, das auf die geringste Zweideutigkeit bei ihm schließen ließ, dabei sprach Georges laut und entschieden und neigte nicht dazu, seine Meinungen zu verhehlen. Aus meiner heutigen Sicht war Georges’ Mitarbeit an der
Révolution nationale
die eines opportunistischen jungen Mannes, der nach Anerkennung gierte und kein Urteilsvermögen besaß.
Selbst wenn sich Lucile, wie andere ihrer Geschwister, Fragen nach der Vergangenheit ihres Vaters stellte, selbst wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher