Das Lächeln meiner Mutter
der den örtlichen Tabakladen betrieb und nicht nur für seine suffbedingte Stinklaune bekannt war, sondern auch für die Skrupellosigkeit, mit der er ein junges Mädchen ausnutzte, das ihm die öffentliche Fürsorge in den Schulferien anvertraute. Lucile war davon überzeugt, dass er sie
betatschte.
Zudem verbot ihnen Pichet, um allen Diebstahlsversuchen vorzubeugen, seinen Lebensmittel- und Tabakhandel mit angeschlossener Kneipe zu mehreren zu betreten. Lucile schlug eine Strafaktion vor, Barthélémy sollte einen Plan ausarbeiten. Sie wollten die riesige langgestreckte rote Metallraute, auch Karotte genannt, kidnappen, die damals als Ladenschild über allen Tabakläden hing. Schon am nächsten Abend wurde die Aktion durchgeführt. Es dauerte irrsinnig lange, die Karotte abzumontieren, sie hing weit höher als vermutet, war beinahe zwei Meter lang und wog etwa zwanzig Kilo. Lucile leitete die Operation. Nach mehreren von Kichern und unterdrücktem Gelächter begleiteten Fehlversuchen gelang es Barthélémy schließlich mit der Hilfe eines Jungen aus der Clique, das Schild zu erwischen. Danach trugen sie es ans andere Ende des Dorfes und versteckten es in einem Schuppen. So glücklich hatte sich Lucile schon lange nicht mehr gefühlt.
Am übernächsten Tag berichtete
L’Yonne républicaine
in einer kurzen Meldung von diesem mysteriösen Verschwinden. Die Clique beschloss, die Heldentat zu wiederholen und sich noch am selben Abend das andere Tabaklädchen der Kleinstadt Pierremont vorzunehmen, dessen Besitzer zwar nicht so unsympathisch war, aber genauso muffig. Am zweiten Tag darauf wurde in einer schon größeren Meldung ein Streit zwischen Kneipiers vermutet. Von diesem neuerlichen Erfolg beschwingt, entschieden die Jugendlichen, ihren Operationsradius auf die umliegenden Gemeinden auszuweiten. So brachten sie einige Tage danach zu Fuß und mit Hilfe einer großen Schubkarre die Karotte eines Nachbarorts nach Hause. Diese Tat beförderte sie aus dem Lokalteil auf die Seite zwei der Zeitung: »Weitere Karotte verschwunden«.
Lucile war begeistert. Sie liebte die Absurdität und Nutzlosigkeit dieser Tat. Den anonymen Ruhm ohne jedes Bild. Der Rest der Ferien wurde damit verbracht, noch weitere Karotten zu ernten und sie in dem verlassenen Schuppen zu stapeln. Jedes Mal wurde ihre Missetat in der lokalen Presse gewürdigt, wobei die unterschiedlichsten Vermutungen angestellt wurden. Bis zu dem Tag, an dem Lucile im Zeitschriftenladen auf der Titelseite von
L’Yonne républicaine
las: »Die Karottenbande aus dem Département Yonne hat wieder zugeschlagen!« Sie kaufte die Zeitung und brachte sie mit nach Hause. Es wurden verschiedene Hypothesen aufgestellt: Wahnsinnstaten eines besessenen Sammlers, etwaiges Recycling bestimmter Materialien, erste Drohgebärden einer lokalen Mafia oder eine Kommandoaktion der Antitabak-Liga. Die Siebenerbande nahm von weiteren Aktionen Abstand, als die Gendarmerie von Auxerre ein Ermittlungsverfahren eröffnete.
Einige Tage darauf warfen Lucile und ihre Clique mitten in der Nacht ein Dutzend Blechkarotten in den Canal de Bourgogne.
Im Sommer darauf beschloss man, den Kanal zu leeren, und fand auf seinem Grund die Karotten. Ein Dutzend Leichen wiesen schweigend auf das nächstgelegene Haus, in dem zwei aktive Mitglieder der kleinen Bande wohnten. Die Jugendlichen erschauerten, doch der Verdacht konnte durch keinen Beweis erhärtet werden.
Lucile und ihre Geschwister fuhren weiterhin in den Ferien nach Pierremont und verübten ihre Streiche.
Im Jahr darauf wurde vereinbart, dass Georges das Haus in Pierremont seinen Schwiegereltern, die es nicht mehr instand halten konnten, auf Leibrentenbasis abkaufen würde. Danach begannen die großen Umbauarbeiten, die nie ganz abgeschlossen werden sollten.
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S o weit war ich, das heißt, auf Seite hundertfünf des Word-Dokuments, an dem ich arbeite – und kurz vor einem Herbstwochenende, an dem ich nichts Besonderes vorhatte –, als ich mich endlich dazu durchrang, die Kassetten zu hören, die mein Großvater etwa fünfzehn Jahre vor seinem Tod aufgenommen hatte.
In den Jahren 1984 bis 1986 saß mein Großvater, eingehüllt in den Rauch seiner Pfeife, immer wieder am Schreibtisch und sprach einen Teil seines Lebens auf Kassetten, von denen es heute insgesamt siebenunddreißig gibt. Dieser mehr als fünfzigstündige Monolog war ursprünglich für Violette bestimmt, die damals um die dreißig war. Violette hatte ihren Vater
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