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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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der Anflug eines Lächelns. Sonst waren die Schülerinnen so grausam untereinander. Warum genoss Lucile Poirier eine solche Immunität? Das hätten weder Mademoiselle Mareuil noch eins der Mädchen, die diese Szene allwöchentlich erlebten, zu sagen gewusst. Und Lucile schaukelte am Ende des Seils, in einer Totenstille.
     
    Lucile mochte keinen Sport. Sie hatte Angst vor Bällen, Schlägern, Sprunggeräten. Sie konnte nicht schnell laufen, konnte Gewichte nicht weiter als einen Meter werfen, fing nie einen Ball und schloss die Augen, sobald ihr alles zu schnell ging. Lucile konnte weder im Stehen mit den Händen den Boden berühren noch eine Brücke machen, noch im Sitzen den Oberkörper so weit vorbeugen, dass sie bei gestreckten Beinen die Füße hätte umfassen können. Nie konnte sie Kopfstand, Rehsprung oder Rad. Luciles Körper war verknotet, widerspenstig, unfähig zu gelöster Bewegung. Bestenfalls brachte sie eine Rolle vorwärts zustande, und auch die nur, wenn sie sehr in Form war.
    Mademoiselle Mareuil sah in diesem völligen Fehlen sportlicher Fähigkeiten einen gegen sie gerichteten Vorwurf, eine ihr jeden Freitag aufs Neue zugeraunte Beleidigung. Sie hasste Lucile und gab ihrer Verachtung in den Beurteilungen auf dem Zeugnis deutlichen Ausdruck.
     
    Liane fand es traurig, dass ihre Tochter so unsportlich war: immer die Letzte, die rannte, ins Wasser sprang, Lust auf ein Tischtennismatch hatte. Ganz einfach die Letzte, die aus dem Bett aufstand, als sei das ganze Leben auf den Seiten eines Buches enthalten, als reiche es, in der Deckung zu bleiben und das Leben von ferne zu beobachten. Trotz ihrer vielen Schwangerschaften behielt Liane ihre kräftige, sportliche Figur, sie hielt sich gerade und ging mit erhobenem Kopf. Einige Jahre zuvor hatte sie vor Zeugen erklärt, sie würde auch an ihrem siebzigsten Geburtstag noch einen Spagat machen können. Die Wette war angenommen worden.
    Lucile bildete einen Ausnahmefall unter ihren Geschwistern. Lisbeth konnte alle möglichen Sprünge und Pirouetten, Barthélémy konnte neben seinen legendären akrobatischen Leistungen auch bemerkenswert gut Tennis spielen, Jean-Marc verbrachte seine Wochenenden bei Schwimmmeisterschaften, Milo war ein guter Läufer. Und was die Kleinen anging, man brauchte sie bloß hüpfen und tanzen oder einfach gestikulieren sehen, dann wusste man, wie gelenkig und behende sie waren.
     
    Im Laufe der Wochen wurde der Turnunterricht am Lycée Lamartine eine Qual für Lucile, die bloße Aussicht darauf raubte ihr den Schlaf. Zu Beginn des Schuljahrs hatte sie noch Kopf- oder Regelschmerzen oder auch Bauchweh vorgeschützt. Doch Liane ließ sich nicht lange täuschen. Also ging Lucile jeden Freitag mit einem Knoten im Bauch und feuchten Händen zum Unterricht, nachdem sie ein Aspirin oder einen Löffel Kräuterelixier für den Magen genommen hatte.
    Im zweiten Quartal begann Lucile ohne jeden handfesten Grund die Turnstunde zu schwänzen. Sie bummelte durch die Straßen oder setzte sich auf eine Parkbank, bis die Stunde vorbei war. Und dann schwänzte sie auch andere Kurse, die ihr ebenso wenig zusagten. Sie fälschte Lianes Unterschrift, das fiel ihr inzwischen leicht. Sie brauchte Luft zum Atmen.

[home]
    I n den Schulferien fuhren Liane und die Kinder regelmäßig nach Pierremont, in das Haus von Lianes Familie. Georges besuchte sie dort an den Wochenenden. Lucile und ihre Geschwister liebten diesen nach Kreide, Staub und Feuchtigkeit riechenden Ort, den Gesang der Krähen, die Nähe zu Fluss und Kanal. In den Häusern ringsum hatten sie gleichaltrige Freunde gefunden. Lucile, Lisbeth und Barthélémy hatten sich im Laufe der Jahre eine kleine Clique aufgebaut, inzwischen lauter Jugendliche, mit denen sie sich allabendlich trafen und die alle heimlich aus ihren Häusern klettern mussten. Bei den Poiriers musste man nur vom Balkon im ersten Stock, der über den menschenleeren Bürgersteig ragte, hinunterklettern. Ein unauffälliges und relativ ungefährliches Unterfangen, es sei denn, Luciles haltsuchender Fuß landete auf der Türglocke. Sie vergewisserten sich, dass die Luft rein war, und dann liefen sie zum Dorfplatz, an dem ein unbeleuchteter Winkel einen idealen Treffpunkt bot. Sobald alle da waren, gingen sie zu einem kleinen Strand, den sie am Flussufer angelegt hatten, tranken Limonade oder Bier, und die Älteren rauchten.
     
    An einem der Abende, als sie alle beisammen waren, kam das Gespräch auf den schrecklichen Pichet,

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