Das Lächeln meiner Mutter
sich über seine vielen Widersprüchlichkeiten wunderte, so glaube ich doch letztendlich, dass sie Georges, was sein Verhalten in der Besatzungszeit angeht, zumindest einen Zweifel zugestand.
Gehasst hat sie ihn aus anderen Gründen.
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I nsgesamt hat Georges mehr als fünfzig Stunden Erinnerungen aufgenommen. Sie beginnen mit seiner frühen Kindheit im Norden und enden 1954 , in Antonins Todesjahr, als hätte Georges nicht über diesen Kummer hinausgehen können. Dreißig Jahre nach dem Unglück höre ich die Stimme meines Großvaters auf diesem Band, langsam kommt er auf diesen Samstag zu sprechen, wo ihr Leben kippt, er sucht mühsam nach Worten, stellt Vermutungen über den Tod seines Sohnes an, beschreibt die Zugreise nach L., die Stimme ist heiser vor Schmerz. Georges erzählt eine eigene Version der Ereignisse (er war in Paris), sie weicht von allen anderen ab, die ich gehört habe.
Georges’ Aufnahmen enthalten eine unglaubliche Vielzahl von Namen, Gesichtern, Gesprächen, witzigen Bemerkungen, alles wird erzählt, als sei es gestern erst geschehen. Es beeindruckt, wie unendlich viele Details er noch im Gedächtnis hat. Manchmal fällt ihm auf derselben Kassette oder einige Kassetten später noch eine Einzelheit ein, er präzisiert, stellt richtig oder fügt noch eine Anekdote hinzu, an die ihn Liane beim Mittagessen erinnert hat. Ich stelle mir die beiden in der Küche in Pierremont vor, in der winterlichen Einsamkeit. Georges kommt aus seinem Arbeitszimmer, wo er den Vormittag im Tête-à-Tête mit seinem Tonbandgerät verbracht hat, zu ihr in die Küche, setzt sich vor die dampfende Suppe, erkundigt sich nach dem Namen irgendeiner Frau oder des Eismanns in Saint-Palais oder fragt sie, wie alt Lucile gewesen sei, als man ihr den Kopf rasieren musste, um zu verhindern, dass sie sich die Haare ausriss. Zu zweit rekonstruieren sie ihre kleine Welt der Fünfzigerjahre, ihre glorreichen und sorglosen Stunden.
Wie ich vermutet hatte, sind Georges’ Tonbandaufnahmen eine kostbare Information über die Gefühlslage, in der meine Großeltern lebten. Als Liane Georges heiratete, hatte sie ihn vorgewarnt, sie wolle zwölf Kinder. Nur so sei sie zu haben. Georges hatte die Bedingung akzeptiert. Bis zu Milos Geburt spielte er mit und freute sich über die häufigen Schwangerschaften seiner Frau und darüber, wie sie in der Mutterschaft aufging. Doch dann bekam er Angst: Die Agentur kam nur schleppend in Gang, sie hatten in sechs Jahren fünf Kinder bekommen, verfügten über keinerlei finanzielle Rücklagen, und obwohl Georges seine Spalte bei
Radio-Cinéma
behalten hatte, war er nie sicher, dass sie finanziell bis zum Monatsende durchhalten würden. Daher hielt er es für vernünftiger, eine Pause einzulegen. Georges sprach also ein ernstes Wort mit Liane, und diese pflichtete ihm widerwillig bei. Sie würde die Knaus-Ogino-Methode anwenden.
Wenige Monate darauf war Liane mit Justine schwanger. Georges glaubte zunächst, sie habe ihn hinters Licht geführt, dann fand er sich damit ab. Bei Justines Geburt antwortete er auf die bösen Unterstellungen, sie vermehrten sich
wie die Karnickel,
um Kindergeld zu bekommen, indem er einen Verbilligungsausweis der Eisenbahn kopierte und darauf schrieb:
»Die Poiriers teilen Ihnen voller Freude mit, dass sie nun endlich 75 % bekommen!«
Außerdem nahm er, weil er gerade kein Foto von Justine zur Hand hatte, ein Babybild von Milo. Niemand merkte etwas.
Einige Monate später war Liane mit Violette schwanger. Georges protestierte schwach und schloss daraus, dass Liane sein ernstes Wort nicht sonderlich ernst nahm, trug es ihr aber nicht nach.
Die »Rue de Maubeuge« ist eine Zeit, in der die Geldfrage ständig im Raum stand, obwohl Georges zum Geld immer eine Beziehung hatte, die auf Leugnen beruhte. Georges lebte über seine Verhältnisse, während Liane sorgsam Buch führte (bei Violette sah ich die im Haus in Pierremont gefundenen Schulhefte, in die sie die kleinsten Ausgaben eingetragen hatte), ängstlich nach dem Geldboten mit dem Kindergeld Ausschau hielt und, wenn sie dringend ein Paar Schuhe für eins der Kinder kaufen musste, bei Marie-Noëlle anrief.
Die »Rue de Maubeuge« ist diese Mischung aus Unbekümmertheit und Unsicherheit, verbunden mit nostalgischen Erinnerungen an aus nichts gezauberte nahrhafte Mahlzeiten, mit der Hand gewaschene Windeln, pipigetränkte Bettlaken und an diesen Tisch, an dem jeder Freund, ganz gleich, ob ein
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