Das Lächeln meiner Mutter
schön. Immer schon war Justine zornig gewesen. Sie aß nie ihren Teller leer, ertrug keine Unannehmlichkeit und hatte Wutausbrüche, deren Gründe im Allgemeinen unbekannt waren. Justine kämpfte gegen ihre Mutter und bettelte in der Konfrontation um deren Aufmerksamkeit. Sie galt als schwieriges Kind. Alles andere hatte man fast vergessen.
Lucile hatte ihr ein Glas Wasser geholt, und Justine hatte sich nach und nach beruhigt. Sie saß jetzt auf der Bettkante, die Hände brav auf den Oberschenkeln, eine Haltung, die ihr gar nicht ähnlich sah. Lucile sah sie immer noch an.
»Es ist wegen Tom«, sagte Justine schließlich. »Er ist mongoloid.«
Lucile legte ihre Hand auf die ihrer Schwester.
»Na und, das ist nicht so schlimm.«
»Und wenn man sich über ihn lustig macht?«
»Niemand wird sich über ihn lustig machen. Papa und Maman werden ihn beschützen. Und wir auch.«
Justine schien getröstet und schlüpfte aus dem Raum.
Seit einigen Monaten kümmerten sich Justine und Violette um Tom, wie sie und Lisbeth sich um die Kleinen gekümmert hatten.
Lucile war in Violette vernarrt gewesen, in die dicken Bäckchen, die blonden Locken, sie hatte ihr Abzählreime und Lieder beigebracht und sogar Multiplikationsaufgaben mit ihr geübt. Doch zu Justine hatte sie immer eine größere Ferne empfunden. Obwohl Lucile manchmal gedacht hatte, sie seien aufgrund dieser in Geschwisterscharen herrschenden geheimen Geometrie durch irgendetwas miteinander verbunden. Etwas, das sie ohne Worte vereinte, das sicherlich nicht zu benennen war und sie einander nicht etwa näherbrachte, sondern sie voneinander entfernte.
Jetzt wachten Justine und Violette über Tom und freuten sich über seine Fortschritte. Die Dinge setzten sich fort und wurden weitergegeben, so war es eben in kinderreichen Familien. Tom war ein
hinreißendes Kind,
ein
Traumprinz,
ein
kleiner Mann.
Er schlief gut, aß gut und weinte nie. Er war so unkompliziert. Sobald man in seine Nähe kam, streckte er die Ärmchen aus und schrie vor Freude. Manchmal hielt Lucile ihn im Arm, streichelte den blonden Flaum auf seinem Kopf und küsste die kleinen Händchen. Genau wie ihre Brüder und Schwestern hatte sie Zuneigung zu Tom entwickelt, sie konnte ihn sich anders nicht vorstellen und hätte ihn gegen kein anderes Kind der Welt eingetauscht. Dennoch war es ihr schon in den ersten Monaten so vorgekommen, als wäre Tom in dieser in der Vielzahl ertrinkenden Geschwisterschar ein zusätzlicher Verdünnungsfaktor. Tom war ein Kummer, den ihre Eltern in ein Geschenk umzuwandeln gewusst hatten. Ein Geschenk, das viel Raum einnahm.
Eines Tages würde Lucile weggehen, den Lärm, das Getriebe, die Unruhe verlassen. An diesem Tag wäre sie einzig und allein, von den anderen unterschieden und nicht mehr Teil eines Ganzen. Sie fragte sich oft, wie die Welt an diesem Tag aussehen würde, ob sie grausamer sein würde oder im Gegenteil milder.
[home]
J ean-Marc war nicht zum Frühstück heruntergekommen, und auch nicht zur Zehn-Uhr-Messe. Liane hatte ungläubig auf ihre Armbanduhr geschaut und einen Moment lang überlegt, ihn zu wecken, sich jedoch anders besonnen. Am vorangegangenen Tag hatte Jean-Marc an einem langen Schwimmtraining teilgenommen, um sich auf den regionalen Ausscheidungswettkampf vorzubereiten. Wahrscheinlich musste er sich noch ausruhen. Sie konnte ihn ruhig schlafen lassen. Sie würde auf ihn warten und dann mit ihm in die Zwölf-Uhr-Messe gehen. Sie liebte diese wöchentliche Verabredung mit ihm, diesen Moment, der nur ihnen beiden gehörte. Jean-Marc war das einzige ihrer Kinder, das an Gott glaubte. Milo und die Älteren weigerten sich schon seit langem, zur Messe zu gehen, Georges hatte seit Antonins Tod keine Kirche mehr betreten, Justine und Violette gingen, ohne zu murren, in den Religionsunterricht, doch sie waren noch zu jung, um Lianes Glauben teilen zu können. Nur Jean-Marc begleitete sie aus freien Stücken und ging sogar allein zur Messe, wenn sie nicht konnte. Jean-Marc betete gern, das hatte er ihr erklärt, er kniete gern mit gefalteten Händen und schickte seine geflüsterten Worte zum Himmel. Vielleicht würden sie eines Tages von seiner Inbrunst bis zum Herrn getragen. Jean-Marc betete nicht für sich selbst, sondern für die anderen, für diejenigen, von denen er wusste, dass sie Sorgen hatten oder unglücklich waren, denn Jean-Marc hatte immer schon besser als jeder andere die Verstörungen der Menschen in seiner Umgebung
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