Das Lächeln meiner Mutter
den es in jeder Familie gibt, zu verweigern.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich aus dem Mund meiner Mutter je eine Beschreibung der verschiedenen Ereignisse, die
ihre
Kindheit geprägt haben, gehört hätte, ich meine, dass sie sie je in einer
Ich
-Erzählung geschildert hätte, die uns mindestens teilweise Zugang zu ihrer Sicht der Dinge geboten hätte. Was mir im Grunde fehlt, ist ihr Standpunkt, die Worte, die sie gewählt hätte, die Bedeutung, die sie den Fakten beigemessen hätte, die Einzelheiten, die zu ihr gehört hätten. Manchmal erwähnte sie diese Dinge, den Tod von Antonin, den von Jean-Marc, die Fotos von ihr als Kinderstar, Lianes Persönlichkeit und die ihres Vaters, sie erwähnte sie mit einer gewissen Heftigkeit, aber außerhalb eines Erzählens, nie als Teil eines Berichts, es war, als werfe sie mit Steinen, um uns mit voller Wucht zu treffen oder um sich vom Schlimmsten zu befreien.
Mit Hilfe der fragmentarischen Bemerkungen, die sie hier und da hat fallen lassen, kurz vor ihrem Tod bei Violette, aber auch bei meiner Schwester Manon und gelegentlich bei mir, versuche ich ihre Sicht zu rekonstruieren. Natürlich setze ich zusammen und fülle Lücken, ich arrangiere alles nach meiner Art. Indem ich Lucile näherzukommen versuche, entferne ich mich nur noch ein bisschen weiter von ihr.
Ich weiß nicht, was Lucile bei Toms Geburt empfand. Ich habe es mir vorgestellt. Ich weiß, dass sie dieses späte und verletzliche Kind, das vor der Welt beschützt werden musste, angebetet hat, ich weiß, wie sehr Tom als Erwachsener für sie zählte, wie wichtig es ihr war, dass er sich wohl fühlte, wenn er ein paar Tage bei ihr verbrachte. Mancher hat mich darauf hingewiesen, dass Tom durch die spontane Zuneigung, die er weckte, die Aufmerksamkeit, die er verlangte, und durch den Wunsch meiner Großeltern, seine Fähigkeiten optimal zu fördern, wahrscheinlich viel Raum eingenommen hat. All die enttäuschten Hoffnungen, Zärtlichkeiten und Zuneigungen haben sich nach und nach auf dieses drollige, liebevolle Kind übertragen, das so völlig ohne Falsch war. Im Laufe der Jahre wurde Tom zum Dreh- und Angelpunkt von Georges’ Interesse und zum Idol der ganzen Familie. Heute ist er ihr Maskottchen und, wie ich glaube, das, was sie im Wesentlichen zusammenhält.
In meiner Kindheit spielte ich mit Tom im Garten in Versailles. Wir machten Jagd auf Justines Dackel Enzyme, um ihm Koseworte in die langen Ohren zu zischen, bis er unwillig den Kopf schüttelte. Tom ist nur wenige Jahre älter als ich.
In meiner Kindheit standen die Fotos von Antonin und Jean-Marc nebeneinander auf dem Bücherregal im Wohnzimmer in Pierremont. Später kam noch ein Schwarzweißporträt von Milo hinzu. In den Schulferien verbrachten wir – meine vielen Vettern, meine Schwester und ich – Wochen im geheimnisvollen Schatten dieser Toten. Mit der Kindern eigenen Empfänglichkeit für das Morbide umkreisten wir ständig diese Fotos, um sie bis ins letzte Detail zu betrachten und ihr Geheimnis zu erkunden, und wir baten Liane Dutzende Male, uns ihre Anekdoten und Erinnerungen zu erzählen. Dann saß meine Großmutter auf ihrem kleinen Schemel in der berühmten gelben Küche, der Küche aller Legenden, und erzählte mit ihrer melodiösen, leichten Stimme von ihren Söhnen, dabei lachte sie manchmal zärtlich, wie nur sie es konnte, oder stieß laute Seufzer aus, das einzige Anzeichen für die Verzweiflung, die diese Toten bei ihr hinterlassen hatten.
Viel später erfuhr ich von Violette, dass Jean-Marc an Hypoxyphilie, auch autoerotische Asphyxie genannt, gestorben ist, das heißt, er hat seinen Orgasmus beim Masturbieren durch Luftmangel zu steigern versucht. Anscheinend gab sich Jean-Marc masochistischen und fetischistischen Praktiken hin. Bei den Gesprächen, die ich als Vorbereitung für dieses Buch geführt habe, erzählte mir Lisbeth, sie sei einmal ohne Vorwarnung in seinem Zimmer aufgetaucht, um einen Slip zurückzuholen, den er ihr geklaut hatte, und habe ihn dabei überrascht, wie er gerade Nadeln in seinen mit einem Schal umwickelten Penis steckte.
Ich versuche heute zu rekonstruieren, wie sich die Ereignisse entwickelten, wie stark sich der Schlag auswirkte. Mir scheint, dass die Geschwister durch Jean-Marcs Tod und die offizielle Version, die darüber verbreitet wurde (doch man kann sich vorstellen, wie schwer die Wahrheit Kindern zu erklären wäre), zum ersten Mal mit der Frage des Freitods konfrontiert
Weitere Kostenlose Bücher