Das Lächeln meiner Mutter
er schämte sich für ihn. Doch jetzt, wo sein Bruder tot war, betete Barthélémy, der nicht an Gott glaubte, aus tiefstem Herzen um seine Wiederauferstehung. Er hätte sonst was dafür gegeben, wenn man die Zeit hätte zurückdrehen können, wenn Jean-Marc nie gestorben wäre, wenn so etwas nicht schon wieder seine Familie zerstört hätte.
Die Presse hatte sich auf das Unglück gestürzt. Journalisten waren gekommen, hatten an der Tür geklingelt und ständig angerufen. Einer nach dem anderen hatten sie Georges’ Zorn und seine Beschimpfungen erlebt. Einige waren in der Nähe des Hauses geblieben, in der Hoffnung, den Geschwistern des toten Jugendlichen oder sonst jemandem, der aus der Tür kam, ein Wort zu entlocken. Wie die anderen auch, ging Lucile nur mit tief im Schal verborgenem Gesicht aus und ignorierte, starr geradeaus blickend, alle Rufe und Versuche, sie anzusprechen.
Man hatte Lucile und ihren Geschwistern Jean-Marcs Tod sehr ruhig erklärt. Weil er als Kind geschlagen worden war, habe Jean-Marc vor dem Einschlafen immer seinen Kopf geschützt. An diesem Abend, als er vom Schwimmtraining erschöpft war, habe er sich die Plastiktüte über den Kopf gezogen und sei nicht wieder aufgewacht. Jean-Marc sei im Schlaf erstickt. Er habe nicht gelitten. Sonst war nichts dazu gesagt worden.
Das Haus, so geräumig es auch war, war nun stickig, die Luft war schwer. Georges war verstört, bei jedem Klingeln zuckte er zusammen. Man versteckte die Schlagzeilen der Zeitungen, die ihn so wütend machten, vor den Kindern. Anderen durfte nichts erzählt werden. Jean-Marc war tot, sonst war nichts dazu zu sagen.
Kann man mit fünfzehn oder fast fünfzehn mit einer Plastiktüte über dem Kopf einschlafen, ohne es gewollt zu haben, ohne sich dazu entschlossen zu haben? Das war die Frage, die sich Lucile, wie wahrscheinlich die meisten ihrer Geschwister, stellte. Und wenn Jean-Marc beschlossen hatte, sein Leben zu beenden, welches Unglück, welches Verlassenheitsgefühl hatte seine Verzweiflung ausgelöst? Niemand hatte es gemerkt, Jean-Marc wirkte glücklich. Welche Schuld hatten sie, die sie noch lebten und nichts gesehen hatten?
[home]
A nfangs, als ich den Gedanken, dieses Buch zu schreiben, nach langem, stillem Verhandeln mit mir selbst endlich akzeptiert hatte, dachte ich, es würde mir ganz leicht fallen, Fiktives einzubauen, und ich hätte keine Skrupel, etwaige Lücken aufzufüllen. Ich will damit in etwa sagen, dass ich glaubte, ich würde Herr über das Geschehen bleiben. Ich glaubte mich dazu imstande, eine flüssige, völlig kontrollierte Geschichte zu konstruieren oder doch wenigstens einen Text, der sich in einer sicheren, beständigen Form weiterentwickeln und im Maße seines Voranschreitens auch einen Sinn bekommen würde. Ich glaubte, ich könne erfinden, Schwung und eine Richtung geben, Spannung erzeugen, die Sache ohne Verwerfungslinien oder Brüche von Anfang bis Ende führen. Ich hoffte, ich könne das Material nach meiner Vorstellung bearbeiten, und mir kommt das recht klassische Bild eines Teigs in den Sinn, eines Tartebodens, wie Liane ihn mir beigebracht hat, Mürbe- oder Blätterteig, den ich aus unterschiedlichen Zutaten mit den Händen zusammengeknetet, unter den Handflächen zu einer Kugel gerollt und dann mit Gewalt flachgepresst oder sogar an die Decke geworfen hätte, um zu sehen, in welcher Weise er daran anklebte.
Stattdessen kann ich an nichts rühren. Stattdessen scheint mir, dass ich stundenlang mit erhobenen Händen dastehe, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und eine scheußliche Metzgerinnenschürze umgebunden, voller Schrecken bei dem Gedanken, ich könnte Verrat an der Geschichte üben, mich in den Daten, Orten, Altersangaben irren; stattdessen fürchte ich, an der Konstruktion der Erzählung, wie ich sie mir vorgestellt hatte, zu scheitern.
Unfähig, mich ganz vom Realen zu befreien, produziere ich eine unwillkürliche Fiktion, ich suche den Blickwinkel, der mich näher heranbringen könnte, näher, immer näher, ich suche einen Ort, der weder Wahrheit noch Erfindung wäre und doch beides zugleich.
Jeden Tag merke ich, wie schwierig es für mich ist, meine Mutter zu beschreiben, sie in Worte zu fassen, und wie sehr mir ihre Stimme fehlt. Lucile hat mit uns nur sehr wenig über ihre Kindheit gesprochen. Sie erzählte nicht. Heute denke ich, es war ihre Art, der Mythologie zu entgehen, sich dem Anteil an Erfindung und erzählerischer Rekonstruktion,
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