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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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erkennen können.
    Für Liane war der Glaube ein Geschenk Gottes, und sie hatte das Glück gehabt, es zu erhalten, wie sie auch das Glück gehabt hatte, neun Jahre zuvor Jean-Marc aufzunehmen, mit dem sie eine seltsame, aber nichtsdestotrotz tiefe Zuneigung verband, und wie sie auch das Glück gehabt hatte, dieses Baby zur Welt zu bringen, das anders war als andere und ihr nur Freude und Entzücken schenkte. Tom konnte schon fast stehen, bald würde er laufen lernen.
     
    Jean-Marc kam auch zur Zwölf-Uhr-Messe nicht herunter, Liane spürte, wie sich in ihr ein kleiner Knoten der Angst bildete, und versuchte ihn mit einem heißen Tee aufzulösen, den sie im Stehen in der Küche trank. Wahrscheinlich war er erschöpft vom Training. Er konnte ruhig einmal die Sonntagsmesse verpassen. Jean-Marc wurde bald fünfzehn. Er bereitete sich darauf vor, die Académie populaire des Arts plastiques zu besuchen, an der zeitgenössische bildende Künstler unterrichteten und wo Barthélémy schon seit zwei Jahren studierte. Jean-Marc hatte sich gefreut, als er zugelassen wurde. Liane hatte sein Gesicht gesehen, als er vom Tag der offenen Tür zurückkam – wie stolz er darauf war, in die Fußstapfen seines Bruders treten zu können und an derselben Kunstschule zu studieren wie er. Jetzt, gegen Ende der Ferien, konnte er ruhig schlafen.
     
    Lucile döste in ihrem Bett, manchmal wurde sie von einem Schrei, dem Scharren eines Stuhls oder einem lauteren Wort geweckt. In der Feuchtigkeit des Bettzeugs verlor sie jedes Körperbewusstsein, ganz, als treibe sie auf einem stehenden Gewässer, das genau die Temperatur ihrer Haut hätte. Sie hatte überhaupt keine Lust hinauszugehen oder auch nur die Vorhänge aufzuziehen. Einige Tage zuvor waren sie aus den Ferien zurückgekehrt, und sie liebte es, diesen Zustand der Latenz und Schlaffheit zu verlängern, nichts zu planen, die Dinge auf sich zukommen zu lassen, die Dehnung der Zeit zu genießen. Bald würde sie sich dem Ferienende und einem neuen Schuljahr stellen müssen. Solange sie zurückdenken konnte, hasste Lucile das Ferienende. Jedes Jahr musste man einen Zeitplan aufstellen, neue Wege festlegen, alles von vorn anfangen. Und dieses Mal war sie, da endgültig vom Unterricht an Blanche-de-Castille ausgeschlossen, bei Pigier angemeldet.
     
    Liane hatte den Mantel angezogen. Sie würde Jean-Marc nach der Messe wecken. Sollte er sich doch ausruhen. Georges war über das Wochenende nach Pierremont gefahren, um die Bauarbeiten voranzutreiben, und konnte ihn daher nicht rügen. Denn Georges war der Ansicht, Ausschlafen sei nur etwas für Schwachmatiker und Faulpelze. Wer ein gesundes Leben führen wolle, müsse in der Frühe aufstehen, auch sonntags. Auch wenn junge Müßiggänger beiderlei Geschlechts anderer Meinung seien.
    Bevor sie aus dem Haus ging, klopfte Liane an Luciles Tür. Nach einigen Sekunden antwortete ihre Tochter mit einem belegten Ja.
    »Ich gehe zur Messe, Prinzessin.«
    Lucile stand auf und machte ihrer Mutter die Tür auf.
    »Das Hähnchen müsste gegen Viertel nach zwölf in den Ofen geschoben werden. Ich habe alles vorbereitet.«
    Lucile nickte und schloss die Tür.
     
    Liane machte sich auf den Weg zur Kirche. Die kleine Angstkugel begann anzuschwellen, doch sie wollte nicht darauf achten und beschleunigte den Schritt. Plötzlich blieb sie stehen. Das war nicht normal. Irgendetwas war passiert. Jean-Marc schlief nie so lange. Und er verpasste nie eine Messe. Liane machte kehrt, rannte zum Haus zurück und hastete die Treppe hinauf. Je näher sie Jean-Marcs Zimmer kam, desto größer wurde ihre Angst.
     
    Lucile hörte, wie ihre Mutter zurückkam und die Treppe hochlief, wie sie dann an Jean-Marcs Tür klopfte und mehrmals nach ihm rief. Lucile hörte ihre Mutter die Tür öffnen, dann hörte sie nichts mehr.
     
    Liane sah den Jungen auf dem Bett liegen, mit einer Plastiktüte über dem Kopf. Sie warf sich auf ihn, riss die Tüte von seinem Kopf und legte das Gesicht frei. Der Mund war noch offen, nach Luft ringend.

[home]
    N ach der rituellen Totenwäsche blieb Jean-Marc, in einen dunklen Anzug gekleidet, noch drei Tage zu Hause. Um sein Bett, auf dem man seine Leiche aufgebahrt hatte, standen Kerzen. Alle Kinder hatten ihn sehen dürfen. Wenige Wochen zuvor hatte sich Barthélémy empört, weil Jean-Marc bald ebenfalls auf seine Schule gehen würde. Seit wann habe Jean-Marc denn eine Begabung für bildende Kunst? Er wollte sich nicht um ihn kümmern müssen,

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