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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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umgewandt und auf dem Gesicht ihrer Freundin nach einem Lächeln, einem Ausdruck von Zärtlichkeit gesucht, doch Solange wich Toms Blick aus, obwohl dieser seine ganze Energie einsetzte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
     
    Schließlich drehte sich Solange zu Justine um und gab ihr Urteil ab:
    »Dein Bruder ist ja ein Mongole.«
    Justine sah ihre Freundin an, diesen Ausdruck von Allwissenheit, den sie mit erhobener Nase und hochgerecktem Kinn zur Schau trug. Tom strampelte mit aller Macht, griff mit den Händen nach den Füßen und führte sie zum Mund. Justine legte ihn wieder flach aufs Bett, um die frische Windel zu verknoten, zog ihm die Hose und die Söckchen an und richtete ihn auf, um ihn hinzusetzen. Tom blieb einige Sekunden in dieser Position, kämpfte um sein Gleichgewicht und fiel dann mit einem kleinen Freudenschrei nach hinten um.
    Justine zuckte die Achseln.
    »So’n Quatsch.«
    Sie nahm das Kind auf den Arm und verließ wortlos das Schlafzimmer. Sie hatte keine Lust mehr, mit Solange zu spielen, die sollte lieber nach Hause gehen, übrigens war Solange gar nicht ihre Freundin, Solange trug scheußliche Kleider und sah aus wie ein
albernes Gör,
das hatte ihr Vater neulich gesagt, als sie einmal sonntags zum Spielen gekommen war.
     
    Abends, als Solange gegangen war, klopfte Justine an Milos Tür und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Milo lag auf dem Bett und war in eine Illustrierte vertieft. Justine setzte sich neben ihn. Milo lächelte ihr kurz zu und las dann weiter.
    »Stimmt es, dass Tom mongoloid ist?«
    Milo sah zu seiner Schwester auf, sichtlich hin- und hergerissen zwischen den Anweisungen, die er erhalten hatte, und der Wahrheit, die er ihr zu schulden meinte.
    »Hm, hm, es stimmt.«
    »Woher weißt du das?«
    »Maman hat es Lisbeth gesagt, die hat es Lucile gesagt, und Lucile hat es mir gesagt.«
     
    Großer Kummer überfiel Justine. Das war nicht möglich. Tom war ein Engel, ein geliebter Prinz, kein Mongole. Sie rannte die Treppe hinunter. Georges saß im Wohnzimmer und las die Zeitung, Liane war beim Kochen. Justine zögerte kurz, dann entschied sie sich für die Küche, wo Violette neben ihrer Mutter saß. Beide putzten Gemüse.
    Justine baute sich vor dem Tisch auf.
    »Stimmt es, dass Tom mongoloid ist?«
    Nach kurzem Schweigen antwortete Liane mit ihrer sanftesten Stimme:
    »Es stimmt, meine liebste Prinzessin. Aber man sagt nicht mongoloid. Tom hat das Down-Syndrom. Das bedeutet, dass er behindert ist und nie so sein wird wie die anderen Kinder. Aber wir werden ihm viele Dinge beibringen, und wir werden versuchen, dafür zu sorgen, dass er glücklich ist.«
    Lianes Stimme hatte sich verändert. Violette bemerkte den tief mitschwingenden Schmerz sofort. Sie ließ den Sparschäler fallen und schlang ihrer Mutter die Arme um den Hals.
    »Können wir ihn nicht reparieren?«
     
    Wie konnte Liane so ruhig sein? Justine hatte große Lust, die Teller zu nehmen und durch die Küche zu schmettern, alles umzustürzen und auf den Boden zu werfen, den Tisch, die Stühle, die Kochtöpfe, das Besteck, alles hinzuschmeißen und laut zu schreien. Sie wollte nicht, dass Tom das Down-Syndrom hatte, dass er behindert oder sonst was war, sie wollte, dass er stark und normal war, damit er sich wehren konnte. Denn Tom würde heranwachsen und ein kleiner Junge werden. Und die Leute auf der Straße und in der Metro würden ihn ansehen, sich nach ihm umdrehen, hinter seinem Rücken über ihn tuscheln. Und das – dass man Tom womöglich auslachte – konnte sie nicht ertragen.
     
    Justine nahm den Obstkorb und ließ ihn abrupt fallen. Sie starrte ihre Mutter herausfordernd an. Die Orangen rollten vor dem Kühlschrank aus, die Äpfel verteilten sich weiter, fast bis in den Flur. Sie würde sich nicht bücken und sie aufheben. Das sollte Liane ruhig selbst tun.
     
    Justine verließ die Küche, ging weinend die Treppe hinauf und stand plötzlich direkt vor Lucile. Lucile nahm sie bei den Schultern und zog sie in ihr Zimmer. Sie setzte ihre Schwester auf ihr Bett und fragte sie nach dem Grund ihrer Traurigkeit. Justine antwortete nicht. Sie bebte vor Zorn, ihre Atmung schien nach einem Ankerpunkt zu suchen, einem Punkt, von dem aus sie ihren inneren Aufruhr dämpfen konnte. Lucile streichelte ihr wortlos das Haar und wartete darauf, dass sich Justines Atmung beruhigte und sie zu schluchzen aufhörte. Justine hatte unendlich lange Beine und erstaunlich regelmäßige Gesichtszüge. Sie war

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