Das Lächeln meiner Mutter
engen Grenzen halten, und es gebe keine Betreuungs- und Beratungsstellen. Tom würde eine ständige Sorge für sie sein. Er könne ihr genauso gut gleich die Wahrheit sagen: Ihr ganzes Leben lang würden sie ihn wie einen Klotz am Bein hinter sich herzerren. Liane antwortete völlig betäubt, sie werde mit ihrem Mann darüber sprechen. Sie betrachtete Tom in seiner Wiege neben ihrem Bett, die winzigen Fäustchen, den blonden Flaum auf seinem Schädel, seinen unglaublich fein gezeichneten Mund. Das Baby suchte nach seinem Daumen und machte ein saugendes Geräusch. Ihr schien, es war vor allem wie alle anderen: unfähig, allein zu überleben.
An den Tagen darauf herrschte ein großes Durcheinander. Violette, die einen Schädelbruch erlitten hatte, war knapp davongekommen, musste aber noch drei Wochen im Krankenhaus bleiben. Liane steckte in der Klinik fest und konnte ihre Tochter erst nach etwa zehn Tagen besuchen.
Georges fuhr zwischen Paris, dem Krankenhaus von Joigny und dem Haus in Pierremont hin und her.
Anfang August reiste die ganze Familie nach Alicante, bis auf Violette, die während der Genesung noch mehrere Stunden am Tag liegen musste und in ihrem Zustand keine Hitze vertrug. Sie wurde Georges’ Schwester anvertraut und verbrachte das Ende des Sommers bei den Verwandten.
Als die ganze Familie im September wieder in Paris war, klemmte sich Georges Tom unter den Arm und machte die Runde durch die Krankenhäuser. Sein Sohn würde nicht behindert bleiben. Georges verlangte immer neue Tests, Zusatzuntersuchungen, Gutachten und Gegengutachten und beschaffte sich alles, was in der Forschung der vorangegangenen zwanzig Jahre zu diesem Thema geschrieben worden war, er ging zu Vorträgen und suchte alle möglichen Gurus auf. Er würde eine Lösung finden, und wenn er den Ozean überqueren musste. Das war nicht nötig. Das zusätzliche Chromosom auf dem einundzwanzigsten Chromosomenpaar war zwei Jahre zuvor in Frankreich entdeckt worden. Professor Lejeune hatte als Erster weltweit die Verbindung zwischen der geistigen Zurückgebliebenheit und der Chromosenanomalie hergestellt und ihr den Namen »Trisomie 21 « gegeben. Nach mehreren Wochen, in denen er teils kühne Vorstöße unternommen und empörte Briefe geschrieben hatte, suchte Georges schließlich Professor Lejeune auf. Wenn Tom ein Chromosom zu viel hatte, brauchte man es ihm ja nur wegzunehmen. Professor Lejeune empfing ihn in seinem Arbeitszimmer und verbrachte über eine Stunde mit ihm. Es sei nicht möglich, das überzählige Chromosom zu zerstören, aber vielleicht könne man es eines Tages neutralisieren. Trisomie sei als Krankheit zu betrachten, nicht als Behinderung. In ferner Zukunft werde die Medizin vielleicht in der Lage sein, die Geistesschwäche zu heilen oder abzumildern. Doch jetzt noch nicht.
Georges war nach diesem Gespräch sehr traurig. Er fasste einen Entschluss, der seine Lebensführung spürbar ändern sollte: Er würde sich diesem Kind mit ganzer Kraft widmen und seine Fähigkeiten bestmöglich fördern.
Weder für Liane noch für Georges kam es auch nur eine Sekunde lang in Frage, Tom in ein Heim zu geben.
[home]
T om lag mit weit geöffneten Augen in seiner Wiege. Schon seit mehreren Minuten stieß er schrille Schreie aus, um seine Schwestern zu rufen. Violette lernte, und Justine spielte mit Solange, einer Schulfreundin, die sie zum Nachmittagsimbiss eingeladen hatte. Justine ging zur Wiege und nahm ihn auf den Arm. Tom zappelte begeistert. Justine witterte den Geruch, der aus der Windel kam, setzte ein fachmännisches Gesicht auf und verkündete, sie werde ihren Bruder jetzt frisch wickeln. Sie lud Solange ein, ihr zu folgen, breitete ein Handtuch auf dem Bett ihrer Eltern aus und legte Tom darauf. Sie reinigte ihm den Po, die Pofalten, das Pimmelchen und trocknete ihn dann sorgfältig ab. Tom stieß kleine Laute aus und lachte immer wieder begeistert. Justine küsste ihn auf die Wangen, den Bauch, die Ärmchen, genau wie sie es bei ihrer Mutter gesehen hatte, stolz darauf, Solange zu zeigen, wie gut sie mit dem Baby umgehen konnte. Übrigens gab sie ihm sehr oft das Fläschchen, und wenn ihre Eltern nicht da waren, schlief er bei ihr. Tom griff nach ihrem Haar und wollte daran ziehen, doch Justine sah ihn streng an. Der Junge zögerte kurz, dann ließ er die blonde Strähne los und strampelte mit den Beinen, um seine Freude zu zeigen. Solange betrachtete Tom verblüfft. Justine hatte sich mehrmals nach ihr
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