Das Lächeln meiner Mutter
mich in die Arme, ich warf mich nach hinten, Violette hielt mich noch einige Sekunden, und ich konnte nicht mehr atmen. In meiner Panik wurde mir schließlich doch noch bewusst, dass ich ja den Schlüssel hatte. Ich öffnete die Tür, und wir stürzten ins Wohnzimmer, Lucile versuchte, Manon an den Haaren festzuhalten, Violette befahl ihr, sie loszulassen, Manon warf sich in meine Arme. Sie presste sich an mich und weinte, Lucile hatte ihr Akupunkturnadeln in die Augen stechen wollen, und es war ihr gelungen, eine unter ihr rechtes Auge zu stecken. Plötzlich erschienen uniformierte Männer hinter uns, jemand hatte die Polizei gerufen, die Polizei war da. Alles vermischte sich zu einem unerträglichen Wirrwarr, Lucile, zitternd und mit verstörtem Blick, war nackt und weiß bemalt, Manon zu Tode verängstigt, inzwischen waren auch Virginia und Jean-Michel da, jemand schlug vor, ich solle meine Schwester zu dem Arzt gleich nebenan, in der Nummer 7 , bringen. Ich ließ ihre Hand los, und Jean-Michel nahm sie in die Arme.
Wir mussten die Wohnung verlassen, wir mussten Lucile nackt und weiß mit einem halben Dutzend Flics allein lassen.
Bei dem Arzt kam ein Polizeibeamter zu uns.
Der Arzt entfernte die Farbsplitter, die Manon in beiden Augen hatte, und reinigte die kleine Wunde, die die Nadel unter dem rechten Auge hinterlassen hatte. Später verließen wir die Arztpraxis, und während man sich in unserer Wohnung um Lucile kümmerte, wurden wir in dem Polizeibus, der gegenüber unserem Haus geparkt war, in Sicherheit gebracht. Sofort bildete sich eine Menschenmenge. Auf der anderen Seite der Fensterscheiben drängte und rempelte es, die Leute stellten sich auf die Zehenspitzen. Alle Blicke zielten auf uns, gierig nach Blutergüssen und blutenden Wunden, ich hätte ihnen am liebsten ins Gesicht gespuckt.
Als Lucile angezogen war – Violette hatte sie zu einem Bad überredet, um sie zu beruhigen und zu versuchen, die Farbe zu entfernen –, nahm sie unseren Platz im Polizeiwagen ein. Damit wir ihr nicht begegneten, wurden wir weggeführt, bevor sie gebracht wurde.
Es war elf Uhr vormittags, der Straßentrubel ging weiter, als wenn nichts geschehen wäre, nichts hatte aufgehört, weder die Lieferungen noch das Gehupe, noch die Frittierfettgerüche aus den Läden, noch das Blinken der Neonreklamen. Nichts außer unserem Leben.
Violette nahm uns an jenem Donnerstag wie zwei beschädigte Paketlieferungen in Empfang. Sie war fünfundzwanzig.
Am Nachmittag kehrten wir in die Wohnung zurück, um uns Sachen für die Nacht zu holen. Abends brachte uns Violette in ihrem kleinen Appartement unter und improvisierte ein Nachtlager. So schliefen wir schließlich, in die Daunenschlafsäcke von ihren Südamerikareisen gekuschelt, ein.
Am nächsten Morgen wachte ich benommen und mit Gliederschmerzen auf, dennoch wollte ich unbedingt zur Schule gehen. Ich wusste, dass ich danach nicht mehr hingehen würde. Jede Stunde schmeckte nach dem letzten Mal, die letzte Französischstunde, die letzte Geschichtsstunde, die letzten quer durch die Klasse ausgetauschten Briefchen, die letzten geflüsterten Geheimnisse auf dem Schulhof, wo ich mir einige Wochen zuvor, um einem Deutschtest zu entgehen, selbst den Kopf an einer Mauer aufgeschlagen hatte. (Die Strategie funktionierte so gut, dass ich ins Krankenhaus gebracht wurde. In der Nacht danach konnte ich nicht schlafen, ich hatte Schuldgefühle, weil ich Lucile Kosten für die überflüssige Röntgenaufnahme verursacht hatte.)
All das hatte keinerlei Bedeutung mehr. Meine Mutter war verrückt geworden, sie hatte eine
bouffée délirante,
einen Anfall von Wahnsinn gehabt, sie lief nicht mehr rund. Das Wort
bouffée
schien mir in zwielichtigen Beziehungen zum
bouffon,
dem Possenreißer, zu stehen, doch ich konnte an dem Ganzen nichts Komisches entdecken, ich verstand nicht, was man uns zu erklären versuchte: Lucile sei sehr müde, sie müsse sich ausruhen, sie habe Manon nichts tun wollen, sie sei nicht in ihrem Normalzustand, sie liebe uns von ganzem Herzen, doch ihr seien die Nerven durchgegangen, die Dinge würden wieder ins Lot kommen, die Dinge kämen am Ende immer ins Lot.
Am Abend nahmen wir, wie geplant, den Zug in die Normandie, wo unser Vater immer noch mit seiner Frau und unserem kleinen Bruder lebte. Den Kopf ans Fenster gelehnt, sah ich die Landschaft vorübergleiten, die wir fast auswendig kannten, ich schloss die Augen und suchte nach einer der Zeit
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