Das Lächeln meiner Mutter
gestohlenen Zeit, in der noch nichts von alledem geschehen wäre.
Sobald wir dort waren, mussten wir erzählen, was wir selbst nicht verstanden, was keiner Logik gehorchte, in keine Ordnung zu bringen, nur tröpfchenweise auszudrücken war, und dennoch stattgefunden hatte.
Am Montag darauf wurde ich in das Collège in L’Aigle im Département Orne aufgenommen, während Manon ohne besondere Anmeldung in die Grundschule von L’Aigle geschickt wurde. Wir waren im Exil und noch ganz benommen. Der sogenannte
Cowboy-
Schnitt meiner Jeans (wie eine Karotte, oben weit und unten eng) war noch nicht in diese Gegend vorgedrungen, man wunderte sich über meinen Aufzug und lachte mich hinter meinem Rücken aus.
Einige Tage später kaufte unsere Stiefmutter uns ein paar Kleidungsstücke. Es würden noch mehrere Wochen vergehen, bis wir in Luciles Wohnung zurückkehren durften, um Sachen zu holen, und mehrere Monate, bis wir Lucile wiedersehen durften.
Hier würden wir einige Jahre lang wohnen. Wir wussten nicht, wie sehr unser Leben gekippt war.
In Gabriels schönem Haus am Ende eines kleinen Feldwegs würden wir eine andere Form der Gewalt kennenlernen, und wir würden jahrelang außerstande sein, sie zu benennen.
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D er 31 . Januar 1980 ist für mich eine Art Ur-Bruch, einer der Brüche, die eine intakte, im Körper verankerte Erinnerung zu hinterlassen scheinen, von denen man weiß, dass sie nie ganz verschwinden werden, genauso wenig wie der Schmerz, der mit ihnen verbunden ist.
Später wird die Angst mit dem Körper verschmelzen, in seinem Blut mitfließen, sich verdünnen und sein Funktionieren mitbestimmen.
Was Lucile angeht, so bin ich mir in einem sicher: Es wird ein
Vorher
und ein
Nachher
geben.
Ich habe Luciles erste Einweisung in eine psychiatrische Klinik auf wenigen Seiten beschrieben, ich weiß, wie unbeholfen sie sind, wie fragmentarisch und vereinfachend alles ist. Selbst heute noch sehe ich die Szene aus der Ferne, unfähig, sie zu interpretieren, ich bin – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – im Haus gegenüber.
Ich hätte um eines, vielleicht nicht unbedingt notwendigen, realistischen Effektes willen Wort für Wort die polizeiliche Meldung abschreiben können, die noch am selben Tag von dem Polizeibeamten Jean-Michel R. angefertigt wurde und deren Betreff wie folgt lautet:
Überstellung einer Person mit Nervenzusammenbruch in das Lariboisière-Krankenhaus, nachdem sie eine Minderjährige unter
13
Jahren (ihre Tochter) misshandelt hat. Kriminalpolizeichef anwesend.
Ich bin mir nicht sicher, dass ich der Sache damit nähergekommen wäre.
Bei meinen Vorbereitungsgesprächen bat ich Violette und Manon, mir von diesem Tag zu erzählen. Ich wollte meine Erinnerungen mit ihren abgleichen, die Dinge so rekonstruieren, wie sie stattgefunden haben. Über einige Details gibt es unterschiedliche Erinnerungen (war mein Vetter Franck an dem Tag, als Lucile behauptete, die Taxis unter Kontrolle zu haben, zu Besuch, haben wir am Abend nach Luciles Einweisung beide bei Violette geschlafen?), doch das Wesentliche passt brutal gut zusammen:
An jenem Januarmorgen rief Lisbeth bei Lucile an, nachdem ich zur Schule aufgebrochen war. Lucile wirkte immer verwirrter, und Lisbeth sorgte sich, weil sie wusste, dass Manon mit Lucile allein war. Lisbeth rief Violette an, die nicht so weit von uns entfernt wohnte, und bat sie nachzusehen.
Während ihres Anfalls zeigte sich Lucile nackt und weiß am Fenster und verlangte von Manon, ihr die Passanten zu beschreiben. Nach und nach sammelte sich, von den Schreien alarmiert, ein Menschengrüppchen auf dem Bürgersteig gegenüber an, und wahrscheinlich rief jemand die Polizei.
Ich würde gern beschreiben können, was Lucile zugestoßen ist, Minute für Minute, um dabei den genauen Moment zu erfassen, als die Sache aus dem Ruder lief, ich würde das Phänomen gern unter dem Mikroskop untersuchen und sein Geheimnis, seine Chemie ergründen.
Bevor ich mit dem Schreiben dieses Buches begann, in dieser einzigartigen, kostbaren Phase, wo der Text gedacht, phantasiert wird, ohne dass die Tasten von auch nur einem Wort, einer Melodie berührt würden, hatte ich vor, Luciles Abdriften in der dritten Person zu schreiben, wie ich es bei gewissen Szenen aus ihrer Kindheit getan habe, mit einem wieder erfundenen, neu begonnenen
sie,
das mir das Feld des Unbekannten eröffnet hätte. Zum Beispiel hätte ich gern ihren Besuch bei Jacques
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