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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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danach erschien mir Lucile immer unruhiger.
     
    An einem anderen Abend gab uns Lucile zum Abendessen gerade erst aus der Packung geholte gefrorene Erdbeeren, wir konnten sie beim besten Willen nicht essen.
    Einige Tage lang kaufte Lucile nur süße Lebensmittel (in meinem Tagebuch präzisierte ich:
die superteuer sind
).
     
    Am 29 . Januar berief Lucile Manon und mich zu einer außergewöhnlichen Konferenz ein, deren Tagesordnung uns alsbald enthüllt wurde. Lucile wollte uns mitteilen, dass sie telepathische Fähigkeiten habe. Sie könne also alles wissen, was vor sich gehe, sogar auf große Entfernung, und habe Kontrolle über die meisten Gegenstände. Als sie diesen Satz ausgesprochen hatte, hörten wir das Fiepen einer Maus aus der Küche. Sie könne auch die Mäuse in die Flucht schlagen, erklärte Lucile, um sich jedoch sofort zu korrigieren: »Ach nein, ich bin ja dumm, Mäuse sind keine Gegenstände.« (Diesen Satz habe ich ausführlichst in meinem Tagebuch wiedergegeben.) Wo immer wir seien, sie könne uns in den Spiegeln sehen und so aus der Ferne beschützen. Auch wir hätten besondere Fähigkeiten. Manon sei eine Hexe, die alles höre und die feindliche Welt ringsum mit ihrem Gehör entschlüsseln könne. Lucile fügte hinzu, sie werde mit ihr zu einem Ohrenarzt gehen, um ihre Hörfähigkeit bestmöglich zu steigern. Ich hingegen sei das Orakel von Delphi, ich könne die Zukunft vorhersagen, und meine Prophezeiungen würden Wirklichkeit. Doch ich solle mich hüten, böse Ahnungen zu verkünden. Lucile bewegte eine Schere auf meinen Hals zu, bis die Spitze meine Haut berührte. Ich atmete nicht mehr, sondern starrte auf ihre zitternde Hand. Sie setzte sich wieder und erklärte uns anschließend, sie habe einem anerkannten Psychoanalytiker einen Brief geschrieben, den sie ihm mangels Briefmarken noch am selben Abend telepathisch zukommen lassen werde.
     
    Der Tag darauf war ein Mittwoch, der Tag der zahnmedizinischen Hochschule. Manon wurde vormittags von den Studenten mit klassischen Behandlungsmethoden untersucht, und nachmittags kam meine kieferorthopädische Behandlung an die Reihe. Als wir gerade aufbrechen wollten, erklärte Lucile, wir dürften auf keinen Fall mit der Metro hinfahren: Der öffentliche Personennahverkehr von Paris könne von ihr nicht vollständig kontrolliert werden. Sie gab mir Geld, damit wir ein Taxi nehmen konnten, denn über das gesamte Pariser Taxinetz habe sie uneingeschränkte Kontrolle. Kein Fahrzeug entgehe ihrem wachsamen Blick. Lucile fragte mich in völligem Ernst, ob ich lieber einen Mann oder eine Frau am Steuer unseres Taxis hätte. Ich überlegte einige Sekunden und antwortete dann, ich zöge eine Frau vor. Manon und ich wagten uns nicht mehr anzusehen, in erschrockenem Schweigen gingen wir die Treppe hinunter.
     
    Meine Mutter war eine Erwachsene, meine Mutter hatte viel gelesen und wusste alle möglichen Dinge, meine Mutter war gebildet, wie konnte ich mir da vorstellen, dass meine Mutter Unsinn reden könnte? Ich war dreizehn Jahre alt, zögernd ging ich auf die Schlange wartender Wagen zu, hin- und hergerissen zwischen dem Respekt vor ihrem Wort und dem Erwachen meines eigenen Bewusstseins, zwischen dem Wunsch, der Chauffeur möge ein Mann sein, und dem, er wäre eine Frau. Da geschah gerade etwas, das sich nicht formulieren ließ, das mein Bewusstsein nicht zu fassen vermochte. Der Gedanke streifte mich, wir könnten heimlich die Metro nehmen und ihr das Geld später einmal wiedergeben (Taxifahren gehörte nicht zu unserem Lebensstil, und ich betrachtete es als entsetzliche Verschwendung), doch ich fürchtete, sie könne den Verrat dank ihrer Fähigkeiten entdecken. Manon sagte nichts. Mit verkrampftem Magen gingen wir auf die Spitze der Taxischlange zu. Im ersten Wagen saß ein Mann am Steuer, ich nannte ihm unser Ziel in der Rue Garancière, und der Geldschein, den mir Lucile gegeben hatte, brannte in meiner Hand. Mir war übel.
     
    Am selben Abend kam Lucile mit einem blauen Auge nach Hause. Sie erklärte uns, der große Psychoanalytiker Jacques Lacan habe sie geschlagen.
    Lisbeth kam aus Brunoy zum Abendessen zu uns. Luciles Geschwister fingen an, sich Sorgen zu machen, Lucile sagte seltsame Dinge am Telefon, und Lisbeth wurde als Kundschafterin ausgesandt. Lucile wirkte sehr erregt, trotz des blauen Auges ging sie mit uns in ein Restaurant. Bei Chartier saßen wir, wie dort üblich, mit anderen Gästen am selben Tisch. Während der Mahlzeit redete

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