Das Lächeln meiner Mutter
war ein fröhliches, zuversichtliches, freundliches Kind. Ich war eine ernste, würdevolle und verkopfte Jugendliche. Die meiste Freizeit verbrachten wir damit, in den Geschäften zu stehlen, das Viertel bot uns dazu vielfältige Möglichkeiten. Zu unseren Lieblingszielen wurden
Pain d’Épices,
ein Spielzeug- und Modellauto-Geschäft in der Passage Jouffroy, wo wir mehrmals in der Woche unseres Amtes walteten und uns die Taschen vollstopften, und die Monoprix-Filiale, wo es noch keine Diebstahlsicherungssysteme gab. Um diesen plötzlichen Reichtum vor Lucile zu rechtfertigen, erfand ich tausend Lügen: Tauschgeschäfte, wundersamerweise auf der Straße gefundenes Geld, zu dick gewordene Freundinnen, die mir ihre Kleider überließen, gerührte Mütter, die mir Geschenke machten – der Rest verschwand in unseren Schubladen.
Eines Tages wurde Manon von einer Verkäuferin ertappt und ausgeschimpft, wir entkamen der Katastrophe nur knapp.
Der ständige Straßenlärm, die Mäuse, die, kaum hatten wir ihnen den Rücken gekehrt, die Küche eroberten, und die kaninchengroßen Ratten, die sich die ganze Nacht in den Mülltonnen tummelten, waren Lucile unerträglich.
Sie isolierte sich in einer immer undurchsichtigeren Welt, wo nach den Rauchwolken manchmal das Pulver an der Reihe war.
Virginia war in meiner Klasse und wohnte uns genau gegenüber, im sechsten Stock des Hauses der Sportzeitung
L’Équipe.
Sie hatte weder mit meinen noch mit ihren, noch mit Problemen überhaupt etwas am Hut. Virginia lebte mit ihrer Mutter, die als Putzfrau arbeitete, auf zehn Quadratmetern, war stolz darauf, dass sie mich zu Partys und ins Kino mitschleppte, und schickte mir jeden Morgen als Aufbruchssignal einen lauten Pfiff durchs Fenster. Ihre Energie brachte meine selbstgebastelte Rolle bald ins Bröckeln. Ihr habe ich zu verdanken, dass ich in die berühmteste Clique des Collège aufgenommen wurde. Ich entdeckte
The Specials, Madness, Police
und
The Selecter
und drückte mich um die Kurse, die mir langweilig vorkamen und denen ich die hitzigen Diskussionen in den Bars oder die Ausflüge in die Galeries Lafayette vorzog. Umstandslos glitt ich in eine neue Welt, eine lebendige, pulsierende, vibrierende Welt.
Am 4 . Januar 1980 waren Barbara, die Schwester meiner Großmutter, und ihr Mann Claude Yelnik, damals leitender Nachrichtenredakteur bei
France-Soir,
in die Sendung
Apostrophes
eingeladen, weil es dort unter anderem um ein Buch ging, das sie gemeinsam geschrieben hatten:
Deux et la folie
[Zwei und der Wahnsinn]. Es ist eine zweistimmige Beschreibung von Barbaras Krankheit, die sich durch den Wechsel zwischen Perioden äußerster Erregtheit bis hin zum Delirieren und solchen tiefer Depression auszeichnete.
Wahrscheinlich lag dieses Datum am Ende der Weihnachtsferien, denn es kommt mir vor, als sei damals die ganze Familie andächtig schweigend in der extravaganten
Salle de télévision
versammelt gewesen, die ganz dem Kult des Fernsehers (der riesig mitten in einem extra für ihn entworfenen Holzgehäuse thronte) geweiht war. Einige hatten es sich auf den breiten, mit langflorigem Plüsch bezogenen Sesseln bequem gemacht, andere saßen auf dem blauen Teppichboden. Wir hielten den Atem an. Die Sendung hatte kaum begonnen, da wurden bereits die ersten Kommentare geflüstert, warum hat sie sich bloß so angezogen, mit wem wird er anfangen, aber nein, ihr Kostüm ist genau das richtige. Die ersten gereizten Psst-Laute schwirrten durch den Raum. Und dann, Achtung, ja tatsächlich, Barbara und Claude wurden als Erste befragt, das war doch phantastisch, prima, klasse, nun haltet doch endlich den Mund, wer hustet da eigentlich die ganze Zeit?
Als wir wieder in Paris waren, fing Lucile an, die Wand des Wohnzimmers, das zugleich ihr Schlafzimmer war, zu bemalen, ein wildes Wandgemälde aus dunkelgrünen Arabesken und Spiralen auf weißem Grund. So habe ich es noch vor Augen, verschlungen und bedrohlich.
Eines Abends klingelte Justines Lebensgefährte Pablo an der Tür, in den Händen einen Korb Austern, den er gerade aus der Auslage einer Brasserie am Boulevard Montmartre geklaut hatte. Es lag auf seinem Weg. Ein paar Minuten später lief er noch einmal nach unten, um eine Zitrone zu erbitten, und tröstete den netten Austern-Aufbrecher, der darüber lamentierte, dass man ihn in einem Moment der Unaufmerksamkeit so hereingelegt habe. Pablo öffnete die Austern, und wir genossen das Festmahl.
An den Tagen
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