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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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dem sie schon seit Wochen gemalt hat und das ihr mit einem Mal Unglück zu bringen scheint (sie glaubt, in den verschlungenen Linien ein Hakenkreuz zu erkennen), weshalb es auf der Stelle ausgelöscht werden muss. Sie bittet Manon, ihr dabei zu helfen, es mit weißer Farbe zu überstreichen, und ärgert sich über die Langsamkeit ihrer Tochter. Sie schüttelt und schlägt sie, damit sie schneller arbeitet. Und dann kommt das Schlimmste: der verrückte Einfall, der ihr wie eine sichere Notwendigkeit erscheint, dass sie Manon heilen muss, indem sie deren Augen akupunktiert (nachdem sie sich vor den Augen meiner entsetzten Schwester einige Nadeln in den eigenen Kopf gesteckt hat).
     
    Im Polizeibus zieht sich Lucile wieder aus. Unter der braunen Decke, die man ihr aufzwingt, hat sie Halluzinationen, an die sie sich noch erinnert: Ihr Bruder Jean-Marc kommt in dem blauen Arbeitsoverall, den er so gern trug, aus dem Sarg. Im Lariboisière-Krankenhaus will man sie nicht behalten, sie sei zu aggressiv. Also wird sie zu den psychiatrischen Diensten des 13 . Arrondissement gebracht und landet schließlich im Krankenhaus Maison Blanche in Paris, das sie zwei Wochen später, noch immer völlig umnachtet, wieder verlässt.
     
    Ich habe weiter oben das Buch von Gérard Garouste erwähnt und auch, wie sehr es mich berührt hat. Ich hätte es schön gefunden, wenn Lucile lange genug gelebt hätte, um es zu lesen. Erstens, weil sie die Malerei liebte, und dann, weil ich sicher bin, dass sie sich weniger allein gefühlt hätte, wenn sie dieses Buch gelesen hätte. Lucile hat viel gezeichnet und manchmal auch gemalt, sie hat einige Schriften und eine beeindruckende Sammlung von Reproduktionen hinterlassen, Selbstporträts aus allen Epochen und allen Ländern, darunter auch das von Garouste. Sie ist im selben Jahr zur Welt gekommen wie er und wohnte gegenüber dem
Palace,
dessen Wände er bemalt hatte, bevor er dort ein paar Nächte verbrachte. In
L’Intranquille
erzählt Garouste detailliert von seiner ersten Wahnphase. Auch er kann sich an alles erinnern: wie er aus dem Haus flieht, in dem er mit seiner Frau Ferien macht, per Anhalter und mit dem Zug fährt, seinen Ehering einem Fremden schenkt, den Ausweis aus einem Taxifenster wirft, seinen Eltern Geld stiehlt, kleinen Jungen auf der Straße Fünfhundert-Franc-Scheine in die Hand drückt, ohne jeden Grund eine Frau ohrfeigt, er erinnert sich an den Pfarrer in Bourg-la-Reine, den er um jeden Preis sehen will, und an seine Gewalttätigkeiten.
    »Manche Wahnschübe sind unauslöschlich«, bekennt er, »andere nicht.«
     
    Auch Lucile hat nichts von jenem Tag im Januar 1980 vergessen, als sie schreibt:
    Dieser Tag hat mein Leben in nicht wiedergutzumachender Weise zum Kippen gebracht. Ich lasse mir jedes X für ein U vormachen, ich lasse mich von jedem für dumm verkaufen. Ich kann nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Einbildung unterscheiden. Bevor ich im psychiatrischen Krankenhaus ankomme, verbringe ich achtundvierzig höllische Stunden, in denen ich von einem Ort zu anderen fahre, spreche, handle, unablässig Grenzen überschreite.
    Zeit, die sehr weit reichen und mich sehr viel kosten wird. Unheilbare Zeit.
    Das Gedächtnis speichert alles ab, sortiert wird hinterher, nach dem Anfall.
     
    Ich hatte den 31 . Januar nie in Worte gefasst, weder in meinem Tagebuch, das ich damals führte (ich hatte nicht die Zeit oder auch nicht den Mut), noch in den Briefen, die ich an den Tagen danach an meine Freundinnen schrieb, noch später in meinem ersten Roman. Inzwischen ist das Ende des Monats Januar für mich eine Gefahrenperiode (ich habe Lucile am 30 . Januar in ihrer Wohnung gefunden). Es ist etwas, das im Gedächtnis des Körpers verankert ist.
     
    Was mir meine Schwester über ihre Erlebnisse an jenem Vormittag, als sie mit Lucile allein war, erzählte, erschütterte mich. Ich hatte es zum Teil vergessen, vermutlich, weil manches davon unerträglich ist. Manon war neuneinhalb Jahre alt. Sie erhielt keinerlei psychologische Unterstützung, sie blieb allein zurück in der Einsamkeit dessen, was nicht gesagt werden konnte. Es gehört zu ihr, auch das ist vermutlich ein wesentlicher Bestandteil ihrer Persönlichkeit.
     
    Vor einigen Monaten fuhr ich mit dem Taxi zum Flughafen Roissy, und der Fahrer fing an, mich auszufragen, nach meinem Reiseziel, nach den Gründen für diese Reise, nach meinem Beruf … Ich nehme sehr selten ein Taxi (meine Verlegerin, die meine Phobie kennt,

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