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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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Lacan beschrieben
(trotz des Verbots der Sekretärin taucht sie im Wartezimmer auf und bittet darum, sich setzen zu dürfen)
und von ihrem Umherirren in der Stadt erzählt, ich hätte gern die Lücken gefüllt, rekonstruiert, was nie zu rekonstruieren sein wird, diese Zeit reinen Wahns, von der selbst Lucile nicht alles wusste.
    Ich konnte es nicht.
     
    Meine Mutter schrieb mehrere Jahre nach dem ersten Ausbruch ihrer Krankheit einen Text, der diesen Anfall und die sich daran anschließende ungeheure Leere schildert. Wir fanden ihn unter den anderen, völlig ungeordneten Texten: vagabundierende, morbide, verliebte Gedanken, mehr oder weniger leserliche mit Bleistift gekritzelte Fragmente, in Hefte geworfene Prosa- oder Versgedichte, lose Blätter ohne Datum, ohne Jahresangabe. All das bewahrte sie in einem Aktenschränkchen aus Blech auf, das ich ihr vor sehr langer Zeit geschenkt habe.
    Dieser Text hat keinen Titel, doch er ist getippt, und es gibt ihn, wie die anderen, in mehreren Exemplaren. Ich habe angefangen, ihn in seiner vollen Länge innerhalb meines eigenen Textes abzuschreiben, etwa zwanzig eng beschriebene Seiten, ein einfacher Bericht, steif vor Schuldgefühlen. Ich dachte, nichts könne Luciles Leid besser ausdrücken als ihre eigenen Worte. Doch als der Text erst da war, eingeklemmt in meine Seiten, schien er mir nicht zu passen, er fügte sich nicht in mein eigenes Material, jedenfalls nicht so, nicht en bloc. Dann beschloss ich, nur eine Reihe von durch Auslassungspünktchen getrennten Auszügen zu behalten, eine Auswahl nach Art des Reader’s Digest, die sich auch nicht besser einfügte, sondern ganz im Gegenteil standhielt, ihre eigene bittere, verletzte Zeitlichkeit und die Unsicherheiten in der Wahl der Sprachregister zeigte.
    Später schien mir, dass ich die Verantwortung für meine Worte, mein Schweigen, mein Zögern, meinen Atem, meine Windungen, kurz, meine eigene Sprache auf mich nehmen muss. Und versuchen muss, Luciles Sprache möglichst richtig zu verwenden, ihre intensivsten und einzigartigsten Motive beizubehalten.
     
    Der Text beginnt so:
    In diesem Jahr, im November, werde ich dreiunddreißig. Ein etwas dubioses Alter, denke ich, wenn man abergläubisch ist. Ich bin eine schöne Frau, ich habe nur schlechte Zähne, was mich in gewisser Weise sehr freut und mich manchmal sogar zum Lachen bringt. Ich wollte, dass man vom latenten Tod weiß.
    Dann erzählt Lucile von den Tagen vor dem Anfall. Sie weint allein auf den Straßen, in einem chinesischen Geschäft, dann in den Galeries Lafayette, sie kauft in der Rue Vivienne ein Klavier, und danach alle möglichen Gegenstände und Kleidungsstücke, die gar nicht zu ihr passen. Später ist sie bei Lacan, dem sie einige Tage zuvor einen Brief geschrieben hat, und verlangt, ihn zu sehen. Als ihr die Sekretärin sagt, er werde sie nicht empfangen, bittet Lucile darum, sich im Wartezimmer ausruhen zu dürfen. Als Lacan aus seinem Arbeitszimmer kommt und sich besorgt über ihre Anwesenheit zeigt, wirft sie sich auf ihn und entreißt ihm mit dem Schrei »Ich hab ihn reingelegt, ich hab ihn reingelegt!« die Brille. Lacan schlägt sie ins Gesicht, die Sekretärin kann sie auf den Boden drücken, und dann werfen die beiden sie, ohne ihr irgendwelche Hilfe zu leisten, hinaus. Diese Szene, wie Lucile sie beschreibt, erklärt das blaue Auge, mit dem sie an dem Tag vor der Einweisung nach Hause kam. Jahre später, zu einer Zeit, als ich mich für Lacans Seminare interessierte, fragte ich Lucile, ob diese Geschichte stimme. Hatten sich die Dinge wirklich so zugetragen, wie sie es beschrieben hatte? Sie versicherte mir, dass es so war. Gegen Ende seines Lebens empfing Lacan seine Patienten im Zehn-Minuten-Takt, verlangte astronomische Summen dafür und kümmerte sich, da er an einer Krebskrankheit litt, die er nicht behandeln lassen wollte, nicht mehr sonderlich um sie. Genauso wenig wie um eine Frau, die mitten in einem Anfall von Geisteskrankheit in seiner Praxis auftaucht. So hat Lucile es mir erzählt. Ich habe nie versucht, diese Version zu überprüfen. Ich habe ihr geglaubt.
     
    Den 31 . Januar hat Lucile genau im Gedächtnis behalten: meine Weigerung, zu Hause zu bleiben, mein morgendlicher Aufbruch zur Schule, die Mandel-Croissants, die Manon zum Frühstück kauft, die Überschriften der Kapitel, die sie Manon aus
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vorliest, der Taschenbucheinband, der plötzlich bedrohlich wirkt, das Gemälde an der Wohnzimmerwand, an

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