Das Lächeln meiner Mutter
zusammengeflickt, zurechtgebastelt und eigentlich nicht mehr zu reparieren.
Von allen Bildern, die mir von meiner Mutter geblieben sind, ist dies sicher das schmerzlichste.
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D ie Untersuchung der familiären Situation wurde in den Monaten nach ihrer Entlassung aus der Klinik durchgeführt. Mehrmals wurden wir zu Gesprächen mit Psychologen und Psychiatern gebeten, wir mussten Tests machen, Fragen beantworten, Familien und Häuser auf Papierbögen zeichnen und sie mit Filzstiften bunt ausmalen.
Auch Lucile, Gabriel und dessen Frau Marie-Anne sowie einige weitere Familienmitglieder wurden befragt.
In dem aus der Untersuchung hervorgegangenen medizinisch-psychologischen Bericht wurde empfohlen, das Sorgerecht für die Kinder Gabriel zuzusprechen und Lucile ein großzügiges Besuchs- und Beherbergungsrecht einzuräumen.
Zur selben Zeit verlor Lucile ihren Arbeitsplatz und das Recht, mit Schecks zu bezahlen. Sie war dreiunddreißig und hatte gerade so ziemlich alles verloren, was sie am Leben gehalten hatte.
Einige Monate lang bezahlte sie noch die für sie allein zu große Wohnung in der Rue du Faubourg-Montmartre, weil sie hoffte, wir würden dorthin zurückkehren. Sie meldete sich arbeitslos, nahm Intensivkurse in Englisch und ließ sich von einem fernen Echo wiegen, das nur in Bruchstücken zu ihr drang.
Mehrere Jahre lang lebte Lucile in einer chemischen Zwangsjacke.
Ihr Blick war starr und verschleiert, als hätte sich eine schlammige Haut über die Pupillen gelegt. Dahinter ahnte man die zur festgelegten Zeit genommenen Tabletten, die in Wasser aufgelösten Tropfen, die stillstehende Zeit ohne Höhen und Tiefen. Es war ein Blick, der sich nicht auffangen ließ, der sich am Boden festhielt oder ein wenig höher, knapp unter dem Horizont.
Manchmal hielt Lucile den Mund offen, ohne es zu merken, und gähnte bis zum Kieferverrenken. Wegen der Medikamente zitterten ihre Hände und, wenn sie saß, auch ihr Bein, eine abgehackte, noch sichtbarere Bewegung, die sie nicht kontrollieren konnte. Wenn Lucile ging, die Arme auf Taillenhöhe angewinkelt, sahen ihre Hände aus wie zwei Leichen. Lucile glich all den Menschen, die hochdosierte Neuroleptika nehmen, sie haben alle den gleichen Blick, die gleiche Haltung, ihre Gesten wirken mechanisch. Sie sind weit entfernt, wie vor der Welt beschützt, nichts scheint sie erreichen zu können, ihre Gefühle sind verhalten, reguliert, unter Kontrolle.
Lucile so zu sehen war unerträglich. Es gab keine Worte, um das Aufbegehren, den Schmerz auszudrücken, nur manchmal den heftigen Wunsch, sie zu schütteln, damit irgendetwas aus ihr herauskäme, ein Lachen, ein Schluchzen, ein winziger Schrei.
Diesen Zustand der Lethargie würde sie erst mehrere Jahre später verlassen, um in den Wahn zurückzukehren. In der Zwischenzeit versuchte sie zu überleben, die Zeit, die so leer geworden war, zu füllen.
Violette rief sie an, ermunterte sie dazu, etwas zu unternehmen, und ging mit ihr ins Kino, wo Lucile fast jedes Mal einschlief.
An den Sonntagen, an denen wir nicht da waren, traf Lucile sich mit anderen Freunden im Schwimmbad. Dort wie überall ging es darum, sie über Wasser zu halten.
An jedem zweiten Wochenende nahmen wir den Zug zu ihr, sie erwartete uns an der Gare Montparnasse, und dann fuhren wir gemeinsam mit der Metro bis zur Station Rue Montmartre, deren Name heute nicht mehr existiert und deren endlose Treppen uns, soweit das noch nötig war, die letzten Kräfte raubten. Dennoch, im Laufe der Monate baute sich, tastend, zerbrechlich, die Bindung wieder auf.
Lucile wollte etwas über unser neues Leben hören, wir erzählten ihr von unserem kleinen Bruder, der Schule, den Freundinnen, den Nachbarinnen, dem Pferd, dem Stepptanz, den Hunden, der Schulmensa, aber im Grunde sagten wir nichts, weder in unseren Briefen noch mündlich. Es war nichts zu sagen.
An solchen Wochenenden lud Lucile unsere Kindheitsfreundinnen ein und dachte sich alle möglichen Aufmerksamkeiten aus, auf ihre Weise versuchte sie uns die Dinge zu erleichtern.
Ich fand die Erinnerungen einer fernen Vergangenheit wieder, ich flanierte mit meinen Freundinnen über die Pariser Boulevards und ging ins Kino.
Ich glaube, das war die Zeit, in der einige dieser Pariser Freundinnen und ich das
Maître-Capello-
Spiel erfanden, eine Parodie auf eine Fernsehsendung, die wir auf Tonband aufnahmen und die uns denkwürdige Lachkrämpfe bescherte.
Lucile las nicht mehr, sie
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