Das Lächeln meiner Mutter
ging nicht mehr in Ausstellungen, obwohl sie die Malerei so sehr liebte, und während unserer Abwesenheit lag sie stundenlang auf dem Bett und starrte ins Leere. Lucile war bei einem Psychiater in Behandlung, der ihr die Medikamente verschrieb, und bei einem Psychotherapeuten, den sie zweimal in der Woche aufsuchte und bei dem sie eine langfristige Therapie angefangen hatte, die jedoch bei jeder Sitzung an ihrem Schweigen abprallte. Lucile hatte nichts zu sagen.
Sie kämpfte, um uns ihr am wenigsten zerstörtes, am wenigsten müdes Gesicht zu zeigen, sie kämpfte, um am Leben zu bleiben. Unseretwegen stand Lucile auf, unseretwegen zog sie sich an und schminkte sich. Unseretwegen ging sie aus dem Haus, um den Sonntagskuchen zu kaufen.
Für jede Bewegung zahlte sie einen hohen Preis, das konnten wir nicht übersehen.
Einige Monate lang hatte Lucile Arbeit als Sekretärin gesucht und mit ihrer zittrigen Schrift auf drei oder vier Anzeigen geantwortet. Doch man konnte sich der Wahrheit nicht verschließen, sie war nicht fähig, ein Vorstellungsgespräch durchzustehen.
Als sie nicht mehr genug Geld hatte, um die Wohnung in der Rue du Faubourg-Montmartre zu halten, konnte sie dank der Bürgschaft einiger Angehöriger in eine kleine, zum Hof hinausgehende Zweizimmerwohnung in der Rue des Entrepreneurs im 15 . Arrondissement ziehen.
Im Frühjahr darauf, im Trubel der Präsidentschaftswahl 1981 , schien Lucile aus ihrem Schweigen herauszutreten. Zum ersten Mal seit langer Zeit schien sie sich von einer Sache betroffen zu fühlen, die sich außerhalb sowohl ihrer selbst befand als auch mit uns nicht in direkter Verbindung stand. Tastend äußerte sie einen Wunsch, was so selten vorkam, und versuchte mir auch zu erklären, warum. Aus diesen wenigen Gesprächen zog ich den Schluss, dass François Mitterrand ganz klar der Mann der Zukunft war: unser Retter. François Mitterrand verkörperte die Erneuerung, den Neuanfang. Luciles so kostbare Worte und ihre damit gepaarte Hoffnung waren der greifbare Beweis dafür, dass sie noch zu uns gehörte. Ruhige Kraft, das war es, was wir brauchten, und dass die Festungsmauern des Schweigens und der Einsamkeit leise in sich zusammenbrachen.
Ich war gerade fünfzehn Jahre alt geworden und widersetzte mich Gabriel in der einzigen mir möglichen Weise. Ich wollte über die Todesstrafe sprechen, über Sozialdeterminismus, ich wollte über die Entwicklungsländer sprechen, das kleinkarierte Leben der Provinzhonoratioren bloßstellen, ich drehte lauter, wenn ich meine Platten hörte, zu meinen Lieblingen gehörte der Sänger Renaud mit seinem immer wiederholten:
Société, société, tu m’auras pas
[Gesellschaft, Gesellschaft, du leimst mich nicht]. Schluss mit den Träumen von Komfort und Konformismus, von der friedlichen bürgerlichen Existenz, von schweren Teppichböden und makellosen Einrichtungen, ich war jetzt eine Rebellin.
Am 10 . Mai 1981 , kurz nach 20 Uhr, ging in dem Zug, der uns von einem fiebrig erregten Wochenende bei Lucile zurückbrachte (wir hatten sie bis in die Wahlkabine begleitet), ein triumphierender Schaffner von Wagen zu Wagen, um den Sieg der Linken zu verkünden. Die Hälfte der Mitreisenden applaudierte, während die andere Hälfte die Neuigkeit mit bestürztem Schweigen zur Kenntnis nahm. Es gab noch keine Handys, wir hingen an den Lippen dieses Boten, er wusste es, ja, er hatte es gerade dank der Funkverbindung zwischen dem Lokführer und der Leitstelle erfahren, es war sicher, sicher und gewiss, um die 52 Prozent. Zwischen den Bahnhöfen Versailles und Dreux hatte ich, während der Zug über Land fuhr, das Gefühl, wir seien gerettet. François Mitterrand war Präsident der Französischen Republik.
Als wir aus dem Zug ausstiegen, schritten wir über neuen Boden. In der Abenddämmerung hatte sich vor unseren Füßen ein leuchtender Weg geöffnet, dessen Eroberungen, Wendungen und Rückschläge wir noch nicht kannten. Gabriel holte uns vom Bahnhof ab, er war angespannt, angespannt wie jedes Mal, wenn wir aus Paris zurückkamen, angespannt, weil François Mitterrand gesiegt hatte.
Abends beim Einschlafen dachte ich an meine Mutter, ich stellte sie mir auf der Place de la Bastille vor, obwohl ich wusste, dass sie nicht imstande war, dorthin zu gehen, ich stellte mir Lucile mitten in der jubelnden, stetig wachsenden Menge vor, wie sie tanzte, wie sie ihren geblümten Rock wirbeln ließ und glücklich war.
Einige Monate danach hörte ich
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