Das Lächeln meiner Mutter
Kakteen).
Unterdessen veröffentlichte Barthélémy, der für die Beilage von
Libération
arbeitete, darin den Text, den Baptiste einige Tage vor seinem Freitod geschrieben hatte.
Lucile kehrte nach Paris zurück, war wieder ständig unterwegs und verteilte Geld auf der Straße. In ihrer Umgebung kam man zu der Überzeugung, dass sie wieder in eine Klinik müsse. Lisbeth und Michel B., ein Freund von Violette, verbrachten einen Tag mit ihr, in der Hoffnung, sie könnten sie sanft zur Notaufnahme des Krankenhauses Saint-Antoine lotsen. Lucile bestand darauf, in verschiedenen Bars Station zu machen, sie tanzte auf den Tischen, sang alte Lieder von Sheila und zögerte den Augenblick des Eingeschlossenwerdens mit allen Mitteln hinaus. Endlich da, kommentierte sie hörbar das Aussehen des Arztes, der sie aufnahm, und äußerte Zweifel an seiner geistigen Gesundheit, als sie entdeckte, dass er (wie sie selbst) Linkshänder war. In dem Krankenwagen, der sie ein weiteres Mal zur Klinik Maison Blanche brachte, schmetterte sie wieder Lieder und befahl dem Fahrer, schneller zu fahren (obwohl sie sonst beim Autofahren schreckliche Angst hatte).
Es vergingen noch einige Tage, bis Lucile in die Klinik Belle-Allée in der Nähe von Orléans verlegt wurde, wo sie dann drei oder vier Monate blieb. Es wurde eine Behandlung festgelegt, Lucile wurde mehrmals täglich von Ärzten aufgesucht und delirierte trotz der Behandlung mit Medikamenten weiter.
In dem Text, den sie später schrieb, erinnert sich Lucile an die Themen ihrer Phantasien: die Malerei, die Philokalie (eine Sammlung besonders eindrucksvoller Zitate), Mythologie (Aphrodite und Apollon), die Architektur Viollet-le-Ducs und
Les Très Riches Heures du duc de Berry.
(Noch ein Satz aus Gérard Garoustes Buch, den sein Arzt einmal sagte: »Man hat die Wahnvorstellungen seiner Kultur.«)
Aus der Klinik Belle-Allée schrieb uns Lucile einige Briefe, in denen sie ihr Krankenhausleben, ihre Beschäftigungen und die Ärzte, die sie behandelten, zu beschreiben versuchte. Wir schickten ihr beruhigende Briefe zurück, in denen wir unsere Schulen, unsere sonstigen Aktivitäten und unsere neuen Freunde schilderten (Lucile hat alle unsere Kinderbriefe aufbewahrt, nach ihrem Tod fanden wir sie bei ihr).
Nach einigen Wochen ließ der Wahn endlich nach. Und wurde gefolgt von der Scham, einer klebrigen, mit Schuldgefühlen gemischten Scham, die sie nie mehr verlieren würde.
Lucile öffnete die Augen und sah ihr verwüstetes Leben vor sich liegen. Sie war dabei, das Sorgerecht für ihre Kinder zu verlieren, sie hatte Geld ausgegeben, das sie nicht hatte, sie hatte allen möglichen Unfug angestellt und gesagt.
All das hatte stattgefunden und war nicht mehr rückgängig zu machen.
Nach mehreren Monaten, als sich ihr Zustand endlich stabilisiert zu haben schien, wurde Lucile aus der Klinik entlassen. Sie kehrte in ihre Wohnung in der Rue du Faubourg-Montmartre zurück und nahm ihre Arbeit wieder auf, bis ihr Kündigungsverfahren abgeschlossen war.
Kurz vor dem Sommer kam für uns der Augenblick, wo wir sie wiedersehen sollten. Das Wochenende war lange im Voraus geplant worden und so, dass sie uns nicht allein abholen würde. Gabriel fuhr uns zum Bahnhof von Verneuil-sur-Arve, unterwegs weinten wir alle drei.
In dem Zug, den wir von nun an in die andere Richtung nehmen würden, versuchten wir uns auf das vor uns liegende Wiedersehen vorzubereiten. Wir wurden immer ängstlicher und konnten nichts spielen, weder »Ich sehe was, was du nicht siehst« noch »neue Verben erfinden«, noch »weder ja noch nein sagen«.
In der Gare Montparnasse gingen wir nebeneinander Richtung Ausgang, unsere Angst überwog unsere Freude.
Lucile war da, sie stand inmitten der geschäftigen Menge am Bahnsteigende, eine winzige blonde Gestalt in einem marineblauen Mantel. Lucile war mit Violette und einer Freundin gekommen, sie stand nun ganz nah vor uns, und plötzlich war da nur noch ihr Gesicht, ihr blasses, abgemagertes Gesicht. Lucile küsste uns ohne irgendwelchen Überschwang, wir wussten alle nicht, wohin mit den Armen, und hielten uns mehr schlecht als recht auf den Beinen.
Wir gingen dann Richtung Metroeingang. Lucile nahm Manon bei der Hand, sie ging vor mir, ich sah sie von hinten, wie zart und zerbrechlich und zerbrochen sie schien. Sie drehte sich zu mir um und lächelte mich an.
Lucile war zu etwas ganz Kleinem geworden, brüchig, notdürftig wieder
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