Das Lächeln meiner Mutter
Aufmerksamkeit und der Blicke stehen mussten. Beide waren fromm, aber nicht bigott (ihrer Vorstellung von Religion war nichts Körperliches fremd) und stark von der Erziehung geprägt, die sie erhalten hatten.
In
Deux et la folie
spricht Barbara auch darüber, dass ihre beiden Brüder im Abstand von nur einem Jahr und beide im Alter von knapp zwanzig Jahren gestorben sind: der eine an den Folgen einer Verwundung im Indochina-Krieg, die nicht richtig behandelt worden war, der andere an einer Lungenentzündung, die er sich beim Schwimmen in einem eiskalten Fluss zugezogen hatte. Durch einen dieser Umwege, die der Wahn nehmen kann, kommen auch diese Toten bei ihrem ersten Anfall zu ihr zurück, als sei sie in irgendeiner Weise verantwortlich gewesen.
Bei den Gesprächen für dieses Buch erfuhr ich, dass einige der Schwestern meiner Großmutter allem Anschein nach als junge Mädchen von ihrem Vater sexuell missbraucht wurden. Darüber schreibt Barbara nichts.
Anders als einige meiner Freunde habe ich mich nie wirklich für Psychogenealogie und für das Phänomen von Generation zu Generation weitergegebener, sich wiederholender Verhaltensmuster interessiert. Ich weiß nicht, wie solche Dinge (Inzest, Tod im Kindesalter, Suizid, Wahnsinn) weitergegeben werden.
Tatsache ist, dass sie wie ein erbarmungsloser Fluch eine ganze Familie heimsuchen können und Spuren hinterlassen, die der Zeit und allem Leugnen trotzen.
[home]
L ucile blieb zwölf Tage in der Klinik Maison Blanche. Sie empfing dort mehrere Besucher, darunter Forrest, einige ihrer Brüder und Schwestern sowie Freundinnen aus der Maison des Chats. Einige Tage nach ihrer Aufnahme erfuhr sie vom Tod von Barbaras und Claudes Sohn Baptiste. Er hatte sich eine Kugel in den Kopf geschossen. Wenn es den Pakt wirklich gegeben hat, war er dabei. Er war der Dritte und Letzte in der sogenannten
Freitodwelle.
Als Lucile Maison Blanche verließ, war der Wahnanfall noch nicht abgeklungen. Der Psychiater hatte sie nur zweimal gesehen, bei der Aufnahme und bei der Entlassung, und sie hatte dort wegen der vielen Spritzen, die man ihr gegeben hatte, nicht gelitten. Lisbeth ersparte ihr den weiteren Aufenthalt in einer Nervenklinik und nahm sie bei sich zu Hause auf, wo Lucile mit Medikamenten weiterbehandelt werden sollte, die sie sich jedoch zu nehmen weigerte. Zur großen Freude von Lisbeths Kindern war Lucile ungehorsam, machte Dummheiten und ließ sich immer neue Tricks und Finten einfallen, um zu entwischen. Sobald ihre Schwester ihr den Rücken gekehrt hatte, versuchte sie auf allen vieren über den Teppichboden zur Tür zu krabbeln, oder sie ließ sich die verrücktesten Termine einfallen, um aus dem Haus zu kommen. In ihrem Eingesperrtsein sprach sie alles aus, was ihr durch den Kopf ging, auf die Jahre des Schweigens folgte eine unablässige Wortflut.
Gabriel hatte ein Verfahren eingeleitet, um das Sorgerecht für uns zu bekommen.
Lucile, gerade aus der Klinik entlassen und noch mitten in ihren Wahnvorstellungen, erschien zum ersten Mal vor dem Richter. Sie wurde von einer Freundin begleitet und konnte sich kaum auf den Beinen halten, sie weinte, sie lachte schallend, machte Wortspiele und verlangte lauthals nach einer Zigarette (dabei hatte man ihr vom Rauchen abgeraten). Der Richter gab ihr schließlich eine Camel.
Es wurde eine »Enquête sociale«, eine Untersuchung der familiären Bedingungen, angeordnet.
An einem Samstag nicht lange danach rief uns Lucile in der Normandie an. Sie wollte einzeln mit uns beiden sprechen, stellte uns mehrmals dieselben Fragen, wollte wieder mit der einen, dann wieder mit anderen sprechen und fragte nach dem Wetter. Von Manon wollte sie wissen, was sie spielte, und ich musste immer wieder dieselben Worte wiederholen, weil sie mich immer noch für das Orakel von Delphi hielt. Das Gespräch dauerte länger als eine Stunde, es war der einzige Kontakt, den wir während mehrerer Monate mit ihr hatten.
Lucile konnte Lisbeth schließlich doch entwischen und nach Barcelona fliehen, wo jetzt Milos bester Freund wohnte. Henri und Nùria nahmen sie trotz ihres erregten Zustands mit der größtmöglichen Herzlichkeit auf. Sie zeigten ihr die Stadt und begleiteten sie auf ihren Spaziergängen. Lucile wollte alles sehen, alles tun, alles kaufen. Binnen weniger Tage brachte sie eine unüberblickbare Zahl von Gegenständen zusammen (Füllfederhalter, Jesus-Figuren aus bemaltem Gips, eine Sammlung kleiner
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