Das Lächeln meiner Mutter
Spuren erhalten. Der Polizeibericht ist abstoßend und relativ ungenau. Der Bericht über die Untersuchung der familiären Situation, der ein Jahr nach Luciles Einweisung an das Tribunal de Grande Instance von Paris geschickt wurde, hält die verschiedenen Gespräche fest, die zu der Empfehlung zu Gabriels Gunsten führten. Er beschreibt in groben Zügen die Persönlichkeiten, wie sie den Psychiatern vorkamen, und stellt die Ansichten meiner Eltern, die beide das Sorgerecht beanspruchen, nebeneinander. Festgehalten werden sowohl Luciles Sorgen wegen der Vehemenz ihres Ex-Mannes und des Klimas der Abschottung, in dem wir, wie sie fürchtete, lebten, als auch Gabriels Zweifel an der Fähigkeit seiner Ex-Frau, für uns zu sorgen, und an der Art, wie wir bis dahin uns selbst überlassen gewesen seien. Manon und ich haben uns beide gehütet, auf die Frage, ob wir lieber bei unserer Mutter oder bei unserem Vater leben wollten, zu antworten. Die Psychiater betonen unseren Wunsch, uns vom Konflikt zwischen den Eltern fernzuhalten. Bei mir ergab der Persönlichkeitstest ein starkes Unabhängigkeitsstreben.
Luciles Worte über die Monate nach der Aufnahme in die psychiatrische Klinik sind von Schuldgefühlen und unendlicher Traurigkeit geprägt.
Über die Wochenenden, die wir nach der Pause wieder bei ihr verbringen, schreibt sie:
Die Planung dieser beiden Tage beschäftigt mich die ganzen zwei Wochen. Das Treffen auf der Gare Montparnasse, der Zug, der häufig Verspätung hat, was wir essen und vor allem tun sollen, was wir uns sagen sollen. Auch ihnen gegenüber hat es mir die Sprache verschlagen. Ich weiß nicht mehr, wie ich mit ihnen reden soll. Als Mutter bin ich von meinem Sockel gefallen. Selbst ihnen gegenüber existiere ich nicht mehr, dabei ist es meine einzige tiefe Schmerz-Freude in diesem Leben, sie zu sehen. Verzweiflung über diese einen nach dem anderen verrinnenden Tage, ohne roten Faden oder zerhackt.
(…)
Ich habe noch Gefühle für meine Kinder, aber ich kann sie nicht ausdrücken. Ich drücke nichts mehr aus. Ich bin hässlich geworden, es ist mir wurscht, nichts interessiert mich, außer wie ich es bis zu der Zeit schaffe, zu der ich mit den Medikamenten schlafen kann. Das Aufwachen ist schrecklich. Der Augenblick, in dem ich von der Bewusstlosigkeit zum Bewusstsein übergehe, zerreißt mich. Sich zum Duschen zwingen, halbwegs akzeptable Klamotten finden.
Über Dr. D., den Psychoanalytiker, zu dem sie jahrelang zweimal pro Woche geht, schreibt Lucile:
Er ist der erste Mensch auf der Welt, dem ich vertraue. Das ist enorm. Ich bin ihm sehr zu Dank verpflichtet. Ich schreie ihm mit sanften Worten meine Verwirrung entgegen. Ich verschweige ihm meine Selbsttötungsgedanken nicht, und im Laufe der Monate kommen Dinge ans Licht, die für immer geregelt sein werden. Meine Situation mit meinem Vater, meiner Mutter und mit jedem meiner Geschwister. Wer sich dabei wohl fühlt, wer davon profitiert. Meine in dieser schrecklichen Geschwisterschar zersplitterte Persönlichkeit. Die neuen Beziehungen, die ich, vor allem zu meinen Töchtern, aufbauen muss.
Unter Luciles Sachen fanden wir auch einige Papiere, die die Untersuchung der familiären Situation und deren Bezahlung betreffen. Am 2 . Dezember 1981 erhält Lucile ein Schreiben von der Rechtsanwaltskanzlei, die ihre Angelegenheiten vertritt. Ich gebe es hier wegen des Postskriptums wieder, das Lucile vielleicht besser charakterisiert als ein ganzes Buch:
Chère Madame …,
nach der Verhandlung über den Gebührenwiderspruch und damit Sie nicht die Kosten für das Gutachten tragen müssen, erscheint es mir erforderlich, dass wir Prozesskostenhilfe beantragen, was allerdings zur Verschiebung der Hauptverhandlung führt.
PS: Maître J. dankt Ihnen für die zarte Aufmerksamkeit und die Zeichnung, deren Farben ihm besonders gut gefallen haben.
Die Fotos aus dieser Zeit zeigen, was wir mit anderen teilen (kurzes Haar, enge Hosen, Benetton-Pullover und Baumwollschals), und das, was wir nicht mit anderen teilen können: Luciles leeren Blick, ihre gebeugten Schultern, ihren nie ganz geschlossenen Mund.
Ich kann mir nicht verhehlen, wie sehr mir das Buch, das ich gerade schreibe, zu schaffen macht. Mein unruhiger Schlaf ist ein greifbarer Beweis dafür.
Nach einer von einem schrillen Schrei, der mich selbst weckte, zerrissenen Nacht versuche ich den Mann, den ich liebe, davon zu überzeugen, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht. Ich
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