Das Land der lebenden Toten
schwerem Bart und dichtem, welligem Haar, das so dunkel war, daß es beinahe blau wirkte. Doch die Lippen seines Mundes waren zu voll, die Wangen zu weich; die Augen waren zu klein und sahen gleichzeitig verschlagen und stumpf aus. Er wirkte weichlich, unangenehm, unzuverlässig, von niederer Gesinnung.
Doch als er Gilgamesch erspähte, trat er von seinem erhabenen Platz herab, als wäre nicht er, sondern Gilgamesch der König, trat neben ihn und sah mit gebogener Kehle zu ihm auf, schief und ohne das Unbehagen zu verhehlen, das ihm Gilgameschs Körpergröße verursachte, und er grüßte ihn freudig mit lauter Stimme wie einen Bruder, der nach langer Abwesenheit aus der Ferne zurückgekehrt ist.
»Gilgamesch – endlich! Hier bei Uns in Unserem Uruk! Heil dir, Gilgamesch! Heil!«
»Dumuzi, Heil«, antwortete dieser mit so großer Begeisterung, wie er über sich brachte, was nicht übermäßig viel war, und vollzog eine Geste der Ehrerbietung wie man sie im alten Land Sumer wohl gegenüber einem König bezeugt hätte. »Großer König, König der Könige…« Er entdeckte flüchtiges Erstaunen bei Dumuzi. Aber Dumuzi war König in dieser Stadt, und einem König stand die gebührende Höflichkeit zu; jedem König. Auch Dumuzi.
»Komm, mach mich mit deinen Freunden bekannt, Gilgamesch. Und dann mußt du neben mir auf dem Ehrenplatz sitzen und mir alles berichten, was dir in der Nachwelt begegnete und widerfuhr, und von den Städten, die du besuchtest, den Königen, die du trafst, den Taten, die du vollbrachtest. Ich will alle deine Neuigkeiten hören – wir sind hier dermaßen isoliert zwischen der Wüste und dem Meer –, doch einen Augenblick, da sind Leute, die du kennenlernen mußt…«
Dumuzi schob den Arm unter den Gilgameschs, wandte Simon und Herodes den Rücken, die mit offenem Mund verärgert dastanden, und schleppte ihn mit beinahe krankhafter Hast an die Tafel. Gilgamesch hatte Mühe, den Mann nicht mit einem Hieb für diese unverschämte Übervertraulichkeit zu Boden zu strecken. Aber er ist ein König, mahnte er sich selbst. Er ist König.
Es war allzu leicht, hinter diese verzweifelte Großspurigkeit des Mannes zu schauen. Der Mann bebte vor Furcht. Der Mann zappelte sich heftig ab, um die Kontrolle über eine Situation zu erlangen, die ihm als unendlich bedrohlich erscheinen mußte.
Tausende von Jahren in der Nachwelt hatte er Zeit und Muße gehabt, um über die beschämende Wahrheit nachzudenken, daß er in seinem früheren Leben nichts weiter gewesen war als der kraftlose, entscheidungsunfähige Lückenbüßer zwischen dem Auftreten zweier großer Heroen, Lugalbanda und Gilgamesch, weiter nichts als ein historischer Gedankenstrich. Und nun war er erneut König, war dank eines rätselhaften Gesetzes des Unvermögens erneut zu seiner vormaligen Höhe emporgekommen. Und da war jetzt erneut dieser bedrohliche Brocken Gilgamesch, zu dessen Gunsten er bereits einmal früher verworfen worden war, und kam hierher nach New Uruk wie ein ungebetenes Gespenst und verlangte Gastfreundschaft.
Selbstverständlich würde Dumuzi Herzlichkeit demonstrieren, überschwengliche Herzlichkeit. Dennoch, dachte Gilgamesch, war es vielleicht keine schlechte Idee, sich, solange man in Dumuzis Stadt war, den Rücken bedeckt zu halten. Feiglinge sind gefährlicher als Helden, denn sie greifen ohne faire Warnung an; ein Dumuzi in seiner Ängstlichkeit und seinem Groll konnte eventuell mehr Schaden anrichten, als Achilles in seinem rasenden Zorn es je zuwege brachte.
Einen Augenblick später verflogen diese trübseligen Überlegungen aber vollkommen, denn eine Stimme, die er seit mehr Jahrhunderten, als er noch zählen konnte, nicht mehr gehört hatte, die aber so anders war als die irgendeines anderen Mannes, daß man sie nicht einmal hier je hätte vergessen können, drang von der anderen Seite des Raumes zu ihm und rief ihn bei seinem Namen.
»Gilgamesch! Gilgamesch! Bei der Mutter, du bist es wirklich? Beim Reißzahn! Bei den Hörnern Gottes! Gilgamesch! Hier!«
Gilgamesch spähte. Nahe dem oberen Ende der Tafel war ein Mann aufgestanden und breitete ihm weit die Arme zur Begrüßung entgegen.
Zuerst dachte er, das müsse ein Später Toter sein, denn in der ganzen weiten Halle trug dieser Mann als einziger die befremdliche offizielle Abendkleidung der zuletzt hier eingetroffenen Zugezogenen, eine Kleidungsart, die als ›Geschäftsanzug‹ bezeichnet wurde: Enge graue Beinkleider, die sich dicht an die Schenkel
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