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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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sich. Sie war eindeutig sumerisch, ihr Gesicht und auch ihre Kleidung verrieten es. Sie trug das Gewand einer Priesterin des Himmelsvaters An. Sie war etwa in Gilgameschs Alter, schien es, vielleicht ein, zwei Jahre jünger als er. Ihr Gesicht kam ihm vertraut vor, doch er vermochte es nicht unterzubringen. Nach ihrer Größe und majestätischen Haltung war sie sicherlich von königlichem Blut, und ihr Gesichtsschnitt sagte ihm, daß sie sogar eine Verwandte von ihm selbst sein konnte. Vielleicht eine seiner leiblichen Töchter? Aber er hatte so viele davon gezeugt. Oder die Enkeltochter einer Urenkeltochter aus der zehnten Generation? Denn hier im Uruk der Nachwelt lebten wie überall hier Leute der unterschiedlichsten Zeitabschnitte ganz durcheinander, und man konnte an jeder Wegbiegung auf irgendwelche entfernte Verwandte stoßen, uralte Ahnen, die hier nur wie kleine Knaben wirkten, und Enkelkinder, die aussahen, als verdämmerten sie in ihrer Senilität.
    Dumuzi sagte: »Magst du nicht zu ihr gehen und ihr deine Aufwartung machen, Gilgamesch?«
    »Aber gewiß doch. Nur…«
    »Du zauderst?«
    »Ich kenne sie irgendwie, Dumuzi. Aber ihr Name fällt meiner Zunge nicht ein, und es beschämt mich, daß ich mich nicht an ihn erinnere.«
    »Und mit Recht schämst du dich, Gilgamesch, daß du deiner eigenen Mutter vergessen hast!«
    »Meine Mutter?« Gilgamesch flüsterte es heiser.
    »Die große Königin Ninsun. Sie ist es, keine andere. Bist du nicht bei Sinnen, Mann? Geh zu ihr! So geh doch zu ihr!«
    Gilgamesch sah benommen und ehrfürchtig zu der Frau hin. Und natürlich war es jetzt klar. Natürlich. Die Jahre zerfielen und verschwanden, als wären sie nie gewesen, und er erblickte das Gesicht seiner Mutter – unverkennbar das Gesicht der göttingleichen Gattin Lugalbandas, des Königs von Uruk – das Antlitz dieser großartigen Frau, die den Helden Gilgamesch in die Welt geboren hatte.
    Und dennoch… dennoch…
    Was uns doch die Nachwelt für Tricks zu bieten hat, dachte er. In den hundert Lebensperioden seines Zweiten Lebens hatten sich ihrer beider Wege nie gekreuzt. Soweit er sich zu erinnern vermochte, hatte er seine Mutter seit jener Zeit in jener langvergangenen anderen Welt nicht mehr gesehen; und er erinnerte sich an sie, wie sie in ihren späten Jahren war, immer noch majestätisch, königlich, doch die Haare weiß wie der Sand, das Gesicht gezeichnet und voller Falten, und hier war sie nun wieder in ganzer kraftvoller Schönheit, nicht jugendlich, aber durchaus nicht alt, sondern eine Frau in voller Lebensreife. Als er sie zuletzt so sah, war er noch ein Kind gewesen. Kein Wunder, daß er sie nicht erkannte.
    Aber nun eilte er zu ihr und sank vor ihr auf die Knie, und es kümmerte ihn nicht, was die anderen sahen oder denken mochten. Er hob den Saum ihres Kleides und preßte die Lippen darauf. Die Tausende Jahre seiner Wanderungen durch dieses miserable grausame Land schrumpften ihm zu einem Nichts, und er war wieder der Knabe, der aus seinem ersten Leben, und die Mutter-Göttin war ihm zurückgeschenkt und stand vor ihm, strahlend und voll Wärme und Liebe.
    Weich und leise sprach sie seinen geheimen Namen, seinen Geburtsnamen, den niemand außer ihr sagen durfte. Dann befahl sie ihm, sich zu erheben, und er ragte in seiner ganzen Länge auf und schlang die Arme um sie und drückte sie an seine Brust, denn so groß gewachsen sie war, neben ihm wirkte sie wie ein Kind. Nach einiger Zeit gab er sie frei, und sie trat zurück und betrachtete ihn.
    »Ich war schon fast verzweifelt, daß ich dich nie wiedersehen würde«, sagte sie. »An jedem Ort, an dem ich in der Nachwelt gelebt habe, hörte ich Geschichten über den großen Gilgamesch, doch nie, niemals, kein einzigmal war ich gerade dort, wo du warst, es sei denn daß mich mein Bewußtsein trog, und in diesem Augenblick glaube ich nicht, daß dem so war. Einmal habe ich Enkidu gesehen, aus der Ferne, in einer gewaltigen tobenden Menschenmenge, ich glaube es war in New Albion, oder im Reich Logres, oder vielleicht der Ort namens Phlegethon, glaube ich. Ich habe es vergessen. Doch wir wurden getrennt, bevor ich ihn rufen konnte. Und als ich mich nach Gilgamesch erkundigte, wußte dort keiner etwas über ihn.«
    »Mutter…«
    »Und dann kam ich hierher in dieses Neue Uruk, da ich wußte, du warst hier König und säßest vielleicht auf dem Thron. Aber sie sagten mir, du hättest das alte Uruk vor langem verlassen und seiest mit Enkidu auf die Jagd

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