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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Und hier an diesem Ort sind sowieso sämtliche Gelöbnisse obsolet. Hast du etwa erwartet, daß sie die ganzen fünftausend Jahre, die sie bisher hier zugebracht hat, keusch wie eine Nonne geblieben ist? Und glaubst du, sie hätte dies tun müssen?
    Dennoch. Warum ausgerechnet dieser Mann? Dieser alte Mann, so klein, kaum noch ein Haar auf dem Schädel, mit einer Haut wie tief gefurchtes altes Leder…
    »Man nennt mich Ruiz«, sagte der kleine Mann. »Sie ist deine Mutter? Gut. Du paßt zu ihr. Sie muß die Mutter von Giganten sein, diese Frau. Die Mutter von Göttern, was? Und du bist also der berühmte Gilgamesch. Mucho gusto en conocerlo, Senhor Gilgamesch.« Ruiz lächelte ihn breit und offen an und streckte ihm ungeniert die Hand hin, als wären sie von gleichem Rang, als stünden sie einander Auge in Auge wie zwei Giganten gegenüber. Der Mann war der gewaltigste kleine Mann, dem Gilgamesch jemals begegnet war.
    Beim Klang der Stimme und als er die Hand des Mannes berührte, begann Gilgamesch zu verstehen, weshalb seine Mutter diesen Mann erwählt hatte, oder genauer, warum sie sich von ihm hatte erwählen lassen. Die Wahl schien dabei von keinerlei Bedeutung zu sein. Der Mann war unwiderstehlich, eine Naturkraft, ein Fluß, der unaufhaltsam der See zuströmte.
    »Pablo ist Künstler«, sagte Ninsun. »Maler, ein Bildermacher. Er macht gerade ein Bild von mir.« Sie lachte leise. »Er will es mich nicht ansehen lassen. Aber ich weiß, es wird ein sehr bedeutendes Bild.«
    »Es gibt Schwierigkeiten«, sagte Ruiz. »Aber ich werde mit ihnen fertig werden. Deine Mutter ist etwas Außergewöhnliches – ihr Gesicht, ihre Ausstrahlung… Ich will ein Bild von ihr malen, das so gut ist, daß es der Teufel höchstpersönlich wird kaufen wollen. Aber ich werde es ihm nicht verkaufen! Und nach ihrem Bild – das deine, was meinst du dazu, Gilgamesch?«
    »Mein Bild?«
    »Ich möchte dich als Modell. Ich werde dir eine Maske aufsetzen, einen Stierkopf, und du wirst mein Minotauros sein. Der grandioseste Minotauros aller Zeiten, das authentische echte Menschentier, das Geschöpf im Labyrinth. Nun? Was sagst du dazu, Gilgamesch Na? Du gefällst mir. Weißt du was, am kommenden Sonntag, el domingo que viene, haben wir hier in Uruk einen Stierkampf, ja? La corrida. Ja? Du weißt, was das ist, ein Stierkampf?«
    »Ja, ich weiß, was das ist«, sagte Gilgamesch.
    »Schön. Natürlich weißt du es. Du sollst an dem Tag neben mir sitzen. Wir zwei werden uns die Feinheiten anschauen. Wie findest du das? Ein Ehrenplatz an meiner Seite.« Die Augen des erstaunlichen kleinen Mannes funkelten. »Und morgen kommst du in mein Atelier, und wir fangen mit den Stellungen an, ja? Wir müssen sofort beginnen. Mein Bild wird dich berühmt machen.«
    »Er ist auch jetzt schon berühmt und groß«, sagte Ninsun gelassen.
    »Por supuesto! Selbstverständlich. Er ist ein König, er ist eine Legende, wir alle wissen das. Doch es gibt Größe und Größe, nicht wahr, Gilgamesch? Du wirst mein Minotauros. Ja? Der Sohn des Minos, aber nicht wirklich sein Sohn, sondern en realidad, in Wahrheit, der Sohn des Stieres aus der See, der – denke ich – der Poseidon war. Na? Wirst du mir Modell stehen?«
    Es war kaum eine Bitte. Gilgamesch begriff, daß dieser Mann eine Bitte nicht als solche auffaßte, sondern als einen Befehl. Die eigenartige Dringlichkeit, dieses Verlangen, ihn zu malen, war amüsant und in ihrer Art geradezu unwiderstehlich. Bloß ein Maler, ein Handwerker, ein Wändedekorierer, mehr war der Mann nicht, und dennoch glaubte er, daß es von höchster Wichtigkeit sei, daß er ein Bild von Gilgamesch in einer Stiermaske anfertigte. Nun, möglicherweise war das ja so. Es war jedenfalls ebenso wichtig wie alles andere, das hier geschah. Verblüfft stellte Gilgamesch fest, daß er den kleinen Mann mochte, daß er sogar Achtung für ihn empfand. Er spürte in sich nicht einmal Groll gegen ihn, weil er sich Ninsans bemächtigt hatte, wie dies offenbar der Fall war. Er fühlte in sich eine innerliche Verwandtschaft zu ihm, eine Nähe, wie er sie zu kaum sonst jemandem unter den Später Toten verspürt hatte. Dieser Ruiz war jemand aus einer älteren Zeit, sogar noch vor der Zeit von Gilgamesch selbst, einer Zeit, in der die Abstände und Unterschiede zwischen Göttern und Menschen noch nicht so gewaltig waren, wie sie es später wurden. Der Mann besaß unbedingt die Qualitäten eines Halbgottes. So etwas sah man auf den ersten Blick.
    »Ja«,

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