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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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du, doch wir waren großartig! Du hättest uns sehen müssen, wenn wir auf die Jagd zogen und wie Geister durch die dunklen blattlosen Bäume streiften! Bei den Hörnern, ich wünschte, du wärst damals mit uns gewesen!« Und mit veränderter, dunklerer Stimme setzte er hinzu: »Ich wollte, ich wäre noch dort.«
    »Du hast mir das alles so geschildert, als wäre es noch immer wahr, diese Zeit des Eises und der gewaltigen Tiere, damals in deinem Palast im Norden«, sagte Gilgamesch. »Und da lagerten die gewaltigen Hauerzähne auf dem Boden, und an den Wänden hingen die zottigen Häute, und dein Volk scharte sich um dich. Ich erinnere mich noch sehr gut, obwohl es schon sehr lange her ist, daß ich dort mit dir zusammen war. Warum bist du fortgegangen?«
    »Du warst einmal König in dieser Stadt hier. Warum bist du fortgegangen?«
    »Wie könnte ich das sagen? Wir treiben in der Nachwelt umher, ohne das Geringste zu verstehen. Ich war in diesem Uruk, und dann war ich nicht in Uruk, und ich erinnerte mich an nichts von Uruk. Vielleicht wurde ich niedergeschlagen und wachte anderwärts auf. Vielleicht in Nova Roma oder einer anderen weit entfernten Stadt. Ich kann mich nicht daran erinnern. Es hätte alles geschehen sein können. Ich kann nur sagen, ich war hier und auf einmal war ich nicht mehr hier. Die Erinnerung daran, wie und weshalb ich fortzog, ist aus meinem Gedächtnis gestohlen worden.«
    »Bei mir ist das anders«, sagte Vy-otin. »Ich wurde getötet. Ein blödsinniger Streit, ein paar betrunkene Ägypter – ich beging den Fehler, dazwischengehen zu wollen. Es war das übliche. Ich trat in die Finsternis, die zwischen den Leben kommt, und ich war tausend oder vielleicht zweitausend Jahre lang weg, und als ich zurückkam, war ich an einem ganz anderen Ort, weit weg von allem, was ich gekannt habe. Kennst du die Stadt Dis, Gilgamesch?«
    »Dis? Nein.«
    »Am anderen Ufer des Weißen Meeres.«
    »Ich habe nicht gewußt, daß es da drüben überhaupt etwas gibt am anderen Ufer.«
    »Die Nachwelt ist unbestimmt, meine Freund, und ohne Grenzen. Ich lebte eine lange Zeit in Dis, dann überquerte ich das Meer, und nun bin ich in Uruk. Mein Volk hat sich zerstreut, und keiner erinnert sich noch an das Schloß im Norden. Alles verändert sich, Gilgamesch, und nicht zum Besseren.«
    »Und du hast dich in der Stadt Dis dazu entschlossen, dich wie ein Später Toter zu kleiden? Warum?«
    »Damit sie nicht merkten, daß ich prähistorisch bin; denn so haben sie mich bezeichnet – vorgeschichtlich, als wäre ich irgendein Tier.«
    »Sie? Wer?«
    »Die Gelehrten«, sagte Vy-otin. »Die Philosophen. Die Archäologen. Die dumpfdummen langweiligen neugierigen Spätlinge. Ich will dir berichten, was geschehen ist. In Dis geriet ich an einen dieser Später Toten, kurzbeinig und häßlich, aber stark, sehr stark. Ein Musiker, Wagner war sein Name. Und da war sein Freund, der Nietzsche hieß, sofern du das als Namen gelten lassen willst, und da war noch einer, ein Jude wie dein Freund Herodes, aber älter, mit einem weißen Bart und scharfen durchdringenden Augen. Der hieß Freud. Und wir vier saßen zusammen und tranken die ganze Nacht lang, genau wie wir das heute taten, und als die Morgendämmerung heraufzog, fragten sie mich nach meinem Namen, und so sagte ich ihnen, ich heiße Vy-otin und sei von dem alten Volk der Eisjäger, habe in der kalten Zeit in einer Höhle gelebt, und mein Auge habe ich bei einem Kampf mit einem Schneetiger verloren. Und ich erzählte ihnen noch das eine und andere mehr aus meinem ersten Leben. Und da brüllte auf einmal dieser Mann Wagner: Wotan! Du bist Wotan! Und der Nietzsche hieß, der sagte: Ja, er ist es in Person. Und der alte Mann Freud begann zu lachen und sagte, daß das durchaus möglich sei, da es außer Zweifel stehe, daß der Mythos aus einer Realität erwächst, und ich deshalb durchaus der fleischgewordene Mythos sein könnte.«
    »Es fällt mir schwer, dir zu folgen«, sagte Gilgamesch.
    »Also, dieser Wotan, der auch Odin genannt wird, war ein Gott, lange nach meiner und deiner Zeit, ein einäugiger Gott in den kalten Nordlanden. Und die drei waren überzeugt, daß ich das Modell bin, nach dem dieser uralte Odin oder Wotan geschaffen wurde. Verstehst du? Daß ich in den Jahren nach meinem Tod immer mehr zur Legende wurde, zum klugen einäugigen König im Schneeland, und dann begannen mich die Leute im Norden im Verlauf von Tausenden von Jahren als Göttervater zu

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