Das Land der lebenden Toten
Herrschaft in diesem Uruk der Nachwelt, woran er sich mit wachsender Deutlichkeit nun wieder zu erinnern begann.
»Ist sie dir zu schwer, Bruder, die Krone?« fragte ihn Enkidu.
»Sie sitzt ziemlich eng. Aber, nein, nein, ich will sie einigermaßen fröhlich tragen.«
»Ich hätte nie gedacht, daß ich dich wieder auf dem Thron sehen würde.«
»Ich auch nicht. Ich hatte geglaubt, ich hätte davon für ein ganzes Leben lang genug, vielleicht sogar für zwei Leben. Aber ich kann anscheinend den Kronen nicht auf Dauer entrinnen, dann finden sie mich wieder, was?«
»Scheint so, Bruder. Du mußt eben einfach ein König sein«, rief Enkidu. »Aber ich glaube, es ist nicht so übel. Soviel Wein, wie wir trinken können, und die Weiber, die wir besteigen werden, und gute Kleider, und ein warmes Fleckchen zum Schlafen – nicht so übel, Bruder gar nicht so übel!« Und er schlug Gilgamesch ausgelassen auf die Schulter und lachend zogen sie nebeneinander in die weite Festhalle ein, wo feiste Fässer voll Wein bereitstanden und an einem halben Dutzend Spießen gewaltige Fleischstücke brieten. »Gar nicht so übel!«
Nein, nicht so übel. Doch Gilgamesch begann sich nun ebenfalls zu erinnern, daß König sein mehr bedeutete als Pracht und Pomp und Prassen. Einst – in jenem kurzen Augenblick seines ersten Lebens – hatte er in einer Zeit der Bedrängnis Heil in dem Wissen gefunden, daß in der klugen Ausübung von Verantwortung die wahre Befriedigung für den Herrscher liege. Was sonst mit dem Königtum einherging, die schönen Paläste und die willfährigen Frauen und feinen Kleider und guten Weine und blitzenden Juwelen und derlei, das war weiter nichts als bedeutungsloser Zierat, flüchtig wie ein Lufthauch. Nur Narren strebten nach Macht, um so etwas zu bekommen, und solche Narren, auch wenn sie gekrönt sein und auf einem Thron sitzen mochten, besaßen keine königlichen Qualitäten. Ein Tor konnte eine dreifache Krone auf dem Kopf tragen, er blieb trotzdem ein Tor. Königtum lag in etwas anderem begründet als in äußerem Gepränge und privatem Vergnügen. Das wußte Gilgamesch. Die Sicherheit und Stabilität des Landes zu erhalten und zu mehren, das war die eigentliche Aufgabe für den König und seine höchste Befriedigung und sein ganzes Heil.
Vielleicht, dachte er, konnte er ja dieses Heil wieder erlangen, selbst in dieser verrückten Nachwelt.
Und unter solchen Gedanken fühlte er sich von der königlichen Größe nicht mehr so stark bedrängt, die auf scheinbar so zufällige Weise ihn überrumpelt hatte. Denn ein Zufall, ein Mißgeschick war es nicht gewesen, daß er wieder König sein mußte. Es gibt keine Zufälle, das wußte er. Es war sein Schicksal, und wie könnte der Mensch sein Schicksal als Falle oder als einen Zufall oder Unfall ansehen, da es doch der Wille der Götter ist? Obschon er sich bemüht hatte, diesem Geschick zu entkommen, es gab kein Entrinnen, also sei es denn! Dies war seine Bestimmung: zu herrschen – und klug und weise zu herrschen. Indem er sich dieser Aufgabe in der Nachwelt zu entziehen versucht hatte, hatte er sich die ganze Zeit um die Verwirklichung seiner wahren Natur gedrückt. Aber nun hatte er sich selbst wiedergefunden.
Im Morgengrauen, als das Festgelage zu Ende ging und überall im Festsaal satte und des Weines volle schlafende Gäste umherlagen wie achtlos hingeworfene Mäntel, durchstreiften Gilgamesch und Enkidu, die noch immer keine Ruhe fanden, zusammen die dunklen Gänge von Dumuzis Palast. Die ganze Länge des Palastes schritten sie ab, spähten in etliche der vielen Gemächer, die sich seitlich auftaten – die meisten davon waren leer, doch einige enthielten kleine Statuen und andere Ritualgegenstände –, dann stiegen sie über eine schmale steinerne Wendeltreppe zu den oberen Galerien, wo sie in den durchbrochenen Wänden des gewaltigen Gebäudes weitere Kammern wie die Zellen in einer Honigwabe entdeckten.
»Das ist ein wundervoll häßlicher Ort«, sagte Enkidu nach einiger Zeit. »Wieso drängte es ihn, eine solche Scheußlichkeit zu bauen?«
»Es gibt manche, die das schön finden«, entgegnete Gilgamesch. »Der Judäer Herodes erklärte mir, daß es sich um die Kopie eines Doms, eines berühmten heiligen Tempels der Spät-Toten handelt.«
Enkidu schüttelte sich. »Das hier? Ein Tempel? Die Götter mögen uns bewahren!«
»Als ich das zum erstenmal sah, sagte ich mir, wenn ich je wieder König in dieser Stadt werden sollte, dann
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