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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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würde es meine erste Regierungshandlung sein, das Ding abreißen zu lassen. Doch jetzt, wo ich die Königschaft wieder trage, fange ich an, darüber anders zu denken.«
    »Du willst das Ding behalten?«
    »Das Licht ist sehr schön, wenn es durch diese Buntglasfenster fällt. Und die hohen Decken – die merkwürdigen Spitzbögen – die Skulpturen an der Fassade – die mächtigen äußeren Stützbögen, die das Mauerwerk halten…« Gilgamesch schüttelte den Kopf. »Nach und nach beginne ich zu bewundern, was ich beim ersten Anblick scheußlich fand. Ja, ich glaube, ich werde es behalten. Vielleicht baue ich mir einen eigenen Palast, etwas, das mehr dem gemäß wird, was wir gewöhnt waren, doch ich glaube, es wäre falsch, den hier zu zerstören.«
    Enkidu lachte. »Kannst du dich erinnern, Gilgamesch. Als ich damals nach Uruk kam – in das andere, das alte Uruk – und du mich zum Enmerkar-Tempel führtest, den dein Großvater errichten ließ, und du glaubtest, daß ich ehrfürchtig und erschüttert sein würde? Und ich hatte noch nie irgendeinen Tempel gesehen und war also ganz und gar nicht beeindruckt, weil ich mir weit mehr davon erwartet hatte…«
    »Ja – aber ja.«
    »…also habe ich mir das angeschaut, die Achseln gezuckt und gesagt: Ziemlich klein und ziemlich häßlich, nicht? Und du warst ganz schön beleidigt. Aber dann hast du das Ding abbrechen lassen und an seiner Stelle deinen eigenen Großen Tempel gebaut.«
    »Der Tempel Enmerkars war alt und stark restaurationsbedürftig. Aber das erkannte ich erst, als du das sagtest.«
    »Aber der Tempel, den du dann bautest, Bruder, der war wunderbar.«
    »Willst du damit sagen, ich sollte das hier niederreißen lassen wie den Enmerkar-Tempel damals, nur weil es dir nicht gefällt?«
    »Ganz und gar nicht«, antwortete Enkidu. »Ich sage nur, daß ich möglicherweise diesen Ort hier durch deine Augen sehen lernen werde und ihn vielleicht bewundern werde wie du, genau wie du einst den Tempel Enmerkars durch meine Augen sahst und erkanntest, wie er in Wirklichkeit war.«
    »Ja«, sagte Gilgamesch. »Jetzt verstehe ich dich.«
    Sie gingen weiter, bis sie die oberste Galerie erreicht hatten. Gilgamesch blickte über die Brüstung und sah den Boden der Festhalle weit unten, wo sich ein paar der betäubten Schläfer endlich zu regen begannen, als das heraufsteigende Morgenlicht durch die Palastfenster drang.
    Nach einer Weile fragte er: »Sag mir, wie war das damals an jenem Tag in der Schlucht, als ich auf der Jagd war und die Karawane angegriffen wurde?«
    »Ich wurde erschlagen«, sagte Enkidu.
    »Das weiß ich. Ich hatte eine Vision davon, die ein schwarzer Zauberer in der Stadt Brasil für mich heraufbeschworen hat – durch Praktiken, über die ich selbst mit dir nur ungern sprechen möchte. Der Angriff durch die Hubschraubflieger, die Räuber, die Granate…«
    »Dann weißt du ja Bescheid«, sagte Enkidu barsch.
    »Ich weiß, was geschah. Aber willst du mir etwas über den Augenblick deines Sterbens sagen, Bruder? Denn das ist etwas, das zu erfahren mich große Neugier plagt.«
    Enkidu blickte Gilgamesch seltsam an. Er wirkte mit einemmal düster und bedrückt, so wie er es selten, ja eigentlich nie an ihm gesehen hatte; denn Enkidu war ein unkomplizierter, ein erdgebundener Mensch, stets bereit zu lachen, von keinerlei Anflügen seelischer Verdüsterung geplagt, und dies war eine der Eigenschaften, deretwegen Gilgamesch ihn so liebte. Aber jetzt… jetzt…
    »Es war weiter nichts«, sagte Enkidu schließlich. »Wie immer, wenn wir hier sterben. Ein Ende, und dann irgendwann später ein neues Beginnen. Es gab viel Lärm und, glaube ich, einen kurzen heftigen Schmerz und dann war alles vorbei. Und das nächste, was ich wahrnahm, ich war wieder ganz und heil und in dieser Stadt Uruk hier, die ich seit unzähligen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Nun, es war nicht das Schlimmste, was mir hätte passieren können, hier in Uruk aufzuwachen, also ließ ich es mir gern gefallen. Ich dachte mir, vielleicht bist auch du hier, und so zog ich los und fragte nach dir, bis Dumuzi nervös wurde und mich einlochen ließ. Und dann bist du gekommen. Und das übrige weißt du ja.«
    Gilgamesch starrte ihn an. »Also wußtest du von diesem Uruk in der Nachwelt?«
    »Aber sicher doch.«
    »Ich meine dieses hier, nicht das Uruk aus unserem ersten Leben.«
    »Das da, klar. Das Nachwelt-Uruk, das du selbst vor langer Zeit gegründet hast, über das du, ich weiß nicht

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