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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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wieviele hundert Jahre, geherrscht hast. Und ich war genau hier, an diesem Ort die ganze Zeit bei dir, Gilgamesch.«
    Gilgamesch fühlte ein Brausen im Kopf. »Die ganze Zeit, in der wir zusammen durchs Outback streiften, konntest du dich daran erinnern, daß wir einmal hier gelebt haben und daß ich hier König war?«
    »Aber natürlich doch. Sicher.«
    »Und hast nie ein Wort darüber zu mir gesagt?«
    Enkidu sah ihn verwirrt an. »Aber das habe ich doch. Oft. Wie oft haben wir uns gegenseitig von den guten alten Tagen im Nachwelt-Uruk erzählt, Gilgamesch, wenn wir nach einer langen Jagd spät am Lagerfeuer saßen. Oft und oft.«
    »Wäre das möglich? Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern.«
    »Willst du damit sagen, wir hätten nie so miteinander gesprochen?«
    »Ich sage nur, ich habe keine Erinnerung daran.«
    »Aber das bedeutet nicht, daß es nicht so war, Bruder.«
    »Vielleicht hast du aber nie mit mir darüber geredet.«
    »Aber das habe ich! Ich habe es!« In Enkidus Augen glomm nun Verärgerung auf. »Was sollen diese ganzen Fragen bedeuten, Gilgamesch? Was beunruhigt dich? Ich sage dir, wir haben oft über das Nachwelt-Uruk gesprochen und uns gefragt, wer dort an der Macht sein mochte, und ob er ein gerechter Herrscher sein würde, und vielerlei in dieser Richtung.«
    »Ich habe das alles vergessen.«
    »Was?«
    »Ich sage es dir doch. Ich konnte mich an nichts aus diesem Uruk hier erinnern, oder daran, daß ich hier König war, bis vor einer ganz kleinen Weile«, sagte Gilgamesch und drückte die Hand seitlich gegen den Kopf, wo er auf einmal Schmerzen verspürte. »Auch nicht daran, daß wir jemals in unseren Jahren im Outback darüber gesprochen hätten. Simon Magus in Brasil forderte mich auf, mit ihm nach Uruk zu suchen, und ich fragte, was für ein Uruk, es gibt kein Uruk in der Nachwelt! Und nach einiger Zeit bekam ich einige Beweise, daß ich mich da geirrt hatte, aber ich zweifelte immer noch daran, und ich zweifelte, bis ich tatsächlich hier eintraf. Und nun kehrt mir alles mehr und mehr zurück. Ja. Aber in all den Jahren fern von hier war mir das alles aus der Erinnerung entschwunden.«
    »Aus deiner Erinnerung entschwunden, Bruder? Nun ja, so geht das eben oft zu in der Nachwelt«, sagte Enkidu und zuckte die Achseln. »Es ist ein Ort voll höllischer Tricks.«
    »Ja, wahrhaftig.«
    »Ich stelle mir vor, daß es dich enorm beunruhigt haben muß, nicht, als dieser Simon dir gegenüber anfing, von dieser Stadt zu sprechen, und du hattest gar keine Ahnung.« Enkidu sah ihn eindringlicher an. »Bruder, könnte das der Grund sein, weshalb du mich fragtest, wie das bei meinem Tod war? Hast du denn auch vergessen, wie der Tod hier an diesem Ort ist?«
    »Wie könnte ich etwas vergessen, das ich nicht erfahren habe? Ich bin nie – «
    Er sah das Funkeln in Enkidus dunklen Augen und brach ab.
    »Du meinst, daß auch ich in der Nachwelt gestorben bin?« fragte Gilgamesch nach einer langen gewichtigen Pause.
    »Da du fragst, kennst du die Antwort nicht.«
    Scharf und fest sagte Gilgamesch: »Ich bin nur einmal gestorben, Bruder, und das war in der anderen Welt, als ich alt war und schwer an Jahren und mein Königtum um mich herum groß, und da kam die Dunkelheit zu mir in meinem Schlaf. Aber hier – nein, Enkidu, hier nicht, niemals, nicht ein einziges Mal.«
    Enkidu sah belustigt drein. »Nicht ein einziges Mal? In Tausenden von Jahren, die du inmitten all der Gefahren hier zugebracht hast?«
    »Willst du sagen, ich bin gestorben?«
    Gilgamesch zitterte jetzt.
    »Ja, Bruder«, sagte Enkidu leise.
    »Wann?«
    »Wann? Wie sollte ich das wissen? Wer könnte hier schon die Jahre zählen? Aber laß mich mal nachdenken. Da war die Sache damals in Santo Domingo, als die Erde um dich herum zu Treibsand wurde und dich verschlang, das war das eine Mal. Und das andere Mal, als der Berg aus Eis einstürzte in der Großen Borealis. Und auf der Estotiland-Insel, als das Ungeheuer aus dem Meer auftauchte…«
    Gilgamesch schwindelte es. Die Bodenplatten schienen ihm unter den Füßen zu schmelzen. Es gab nichts Festes in dieser Welt, keine Realität, auf die man sich verlassen konnte.
    »Götter! Was sagst du mir da? Wie oft hat mich hier schon der Tod geholt?«
    Enkidu hob die Handflächen nach oben, »Kann ich nur schwer sagen. Fünfmal? Zehnmal? Ich konnte es nicht zählen. Ich konnte noch nie gut zählen, Bruder. Aber oft genug war es. Du weißt doch, es geschieht uns allen immer wieder und

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