Das Land der lebenden Toten
vortraten, um ihm zu huldigen. Auch der kleine Picasso war da und kritzelte Skizzen von allem und jedem, so schnell seine Hand zeichnen konnte.
Gilgamesch empfand dies alles, als wäre er in einem Traum, der viel lebhafter und intensiver war als die Wirklichkeit selbst. Es war ihm, als wären Tausende von Jahren in einem Nu zunichte geworden und als befände er sich wieder mitten in seinem Erstleben. Wieder war er ganz frisch aus dem Exil nach Uruk gekommen, nach langer Wanderschaft. Wieder hatte er dem schwachen und verhaßten Dumuzi die Krone entrissen, genau wie damals, als er jung war. Und wieder kam die Prozession der Vizekönige Dumuzis, der Kämmerer, der Oberaufseher und Verwalter, der Steuereintreiber und Gouverneure, um vor dem König Gilgamesch das Knie zu beugen.
Damals, beim erstenmal, war es ihm als unvermeidlich erschienen, König zu sein. Er war dazu geboren. Doch mit dem hier hatte er nie gerechnet. Wie oft hatte der Gilgamesch der Nachwelt nachdrücklich gegenüber allen, die ihm zuhören wollten, betont, daß er das nicht wolle, diese Grandeur, den Pomp, das Gepränge! Wie würde Caesar jetzt spotten! Wie würde Bismarck lachen, oder Lenin! »Mich verlangt nicht nach dem Königtum«, hatte er so oft behauptet. »Das Streben nach Macht in der Nachwelt ist Torheit und Irrsinn.«
Und nun saß er in der Schlinge. Ein Ding hatte zum nächsten geführt und immer weiter und weiter, und hier saß er wieder auf einem Thron und fühlte, wie die Königswürde über ihn hereinbrach wie ein unaufhaltsamer Sturzbach und wie sie eine Einsamkeit mit sich brachte, die brennender war als je das Gefühl in seinen einsamen Jahren im Outback.
»Der Kammerherr der Schärpe Enlils! Der Proviantmeister! Der Vorsteher des Ubshikkinakku-Heiligtums! Der Pfleger der Königlichen Pracht! Der Gouverneur von…«
Sie defilierten vorbei, endlos, bedrückt-feierliche Gesichter von kleinen Potentaten, gekleidet in Prunkgewänder, und schielten verzweifelt zum König auf, ob dieser sie auch ja in ihrem bisherigen Rang bestätigen mochte. Und er nickte mit glasig starrem Blick und nickte mit seinem bekrönten Haupt diesem zu und jenem und diesem, und ihm schien, als zöge sich die Schlinge des Königseins mit jedem Augenblick fester um seine Kehle zu.
Würde diese Prozession denn nie ein Ende finden?
Enkidu berührte seinen Arm und zwinkerte ihm zu. »Sieh ein bißchen freudiger drein, Bruder Gilgamesch! Zeig, daß du dich freust! Danach kommt das Fest! Und danach…«
Enkidu grinste lüstern, griff sich zwischen die Beine, rollte wollüstig die Hüften und stieß sie drei-, viermal nach vorn.
Trotz seiner wachsenden Umdüsterung rang Gilgamesch sich ein Grinsen ab. Enkidu hatte schon immer die Gabe besessen, ihn aus seiner hervorstechendsten Sündhaftigkeit, dem übermäßigen Ernst, herauszulocken. Er machte eine Handbewegung hinab zu den Honoratioren in der Schlange, sie sollten sich rascher bewegen. Von der dunklen Seitennische her nickte Herodes beifällig und schlug einen kleinen Kreis mit der Hand, wie um anzudeuten, daß Gilgamesch die Prozedur sogar noch mehr beschleunigen könnte. Simon Magus neben ihm schien im Stehen zu schlafen.
Zu Enkidu sprach Gilgamesch: »Wieviele sind’s denn jetzt noch?«
»Die Schlange erstreckt sich aus dem Palasttor und über die halbe Plaza.«
»Da«, sagte Gilgamesch und drückte Enkidu das Szepter in die Hand. »Geh runter zu ihnen, halte ihnen das da über die Köpfe und erkläre ihnen, daß sie alle in ihren Ämtern bestätigt sind, sonst kommen wir nie zu unserm Fest. Wir können die meisten dieser Leute später abservieren, wenn wir herausgefunden haben, wie der Laden hier wirklich läuft.« Und kopfschüttelnd setzte er hinzu: »Ihr Götter! Wozu hat Dumuzi bloß diesen ganzen Haufen von Beamten gebraucht?«
Doch später, als die endlose Zeremonie endlich vorbei war und er sich aus dem Thronsaal in den Festsaal begab, dachte er zu seiner Überraschung, daß möglicherweise die meisten dieser Männer irgendwelche echten Funktionen erfüllten und ihm nützlich sein konnten. So chaotisch die Nachwelt sein mochte, die Städte brauchten trotzdem immer noch Behörden und Verwaltung, und es waren nicht die Könige, die eine Stadt in Gang hielten, sondern jene Leute, die unter dem König die tägliche mühevolle Verwaltungsarbeit leisteten. Soviel erinnerte er sich noch aus den früheren Perioden als Machthaber, sowohl in der anderen Welt als auch an seine ersten Tage der
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