Das Land der lebenden Toten
wieder.«
»Ich erinnere mich nicht an derlei«, sagte Gilgamesch mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war.
»Auch ich muß wohl vieles vergessen haben, Bruder. Da kann es keinen Zweifel geben. Die Tafel wird immer wieder saubergewischt. Und was macht das schon? Wir leben, wir sterben, wir leben und sterben wieder – so geht das hier nun einmal. Wenn wir alle unsere Erinnerungen gleichzeitig im Gedächtnis behalten müßten, wir würden verrückt werden. Allerdings glaube ich manchmal sowieso, daß wir alle verrückt sind.«
»Tode – so viele Tode zu sterben…« murmelte Gilgamesch.
Er starrte blicklos geradeaus und sah sich dabei selbst stürzen und immer wieder stürzen, wie einen großen Baum, der irgendwie immer erneut gefällt werden konnte. Er sah sich leblos auf einer kahlen Ebene liegen, sah sich am Rand einer stürmischen See, auf dem Kamm eines von Wölfen durchheulten Berges. Und jedesmal erwachte er wieder und begann neu und erinnerte sich an nichts mehr. Daß er so viel vergessen konnte, daß die trügerische Nachwelt ihn so umfassend beeinflussen konnte, das traf ihn hart. Sein Gesicht brannte vor Scham. Und auch vor Selbstverachtung wegen seines erbärmlichen Stolzes, der ihn veranlaßt hatte, so zu tun, als sei er hierorts unangreifbar und unverletzlich, und weil er selbst an seine Angeberei geglaubt hatte.
»Gilgamesch?« fragte Enkidu.
»Einen Augenblick, bitte. Das verwirrt mich alles.«
»Nicht, Bruder! Laß es leicht von dir abgleiten.«
»Wenn ich das nur könnte!«
»Ach ja. Die Vorstellung vom Sterben bedrückte dich schon immer. Immer noch?« sagte Enkidu. »Aber der Tod kommt doch so leicht. Und man sollte ihn ebenso leicht nehmen.«
»Ja. Da sagst du was Wahres.«
»Dann streife die Gedanken daran ab. Laß los!«
Gilgamesch nickte und wandte das Gesicht ab.
Aber es gelang ihm nicht, die Düsternis abzuschütteln, in die ihn Enkidus Erklärung eingesponnen hatte. Eine Illusion nach der anderen war ihm fortgerissen worden, seit jenen unschuldsvollen Tagen, als er im Outback umherzog, und es fiel ihm schmerzlich schwer, dies auszuhalten. Er stand reglos da und klammerte sich an die steinerne Brüstung der hohen Galerie, als fürchtete er, auf den Boden hinabzustürzen, wenn er den Griff lockerte. Verzweifelt mühte er sich um Fassung.
»Ach, komm schon, Bruder!« Enkidu neigte sich zu ihm und knuffte ihr lachend sanft mit den Fäusten, als wollte er ihn so aus seiner brütenden Trübsal locken. »Was bedeutet schon ein kleiner Tod oder zwei? Das passiert uns doch allen. Aber jetzt leben wir, oder leben wir etwa nicht, und du bist wieder ein König, und alles steht gut, Bruder. Alles steht bestens!«
Einige Tage später fand sich Simon der Magier vor Gilgamesch in dessen Audienzzimmer ein; er roch nach Wein und sah mitgenommener aus denn je. Er sagte: »Ich gedenke in Kürze wieder nach Brasil aufzubrechen.«
»Du weißt, du bist mir als Gast herzlich willkommen, solange du bleiben möchtest, Simon.«
»Ich danke dir für deine Großzügigkeit. Doch ich war lange genug von meiner eigenen Stadt weg. Wer weiß, was sich dort alles getan hat, während ich hier in Uruk weile?«
»Gewiß haben doch deine Weisen und Zauberer in Brasil alles sorgfältig unter Kontrolle«, sagte Gilgamesch.
»Ja. Hoffe ich jedenfalls.«
Es folgte ein unbehagliches Schweigen. Gilgamesch hatte den Eindruck, daß Simon mehr auf dem Herzen hatte, als nur sich zu verabschieden, etwas von beträchtlicher Wichtigkeit, doch Simon wartete einfach stumm, mit kalten zusammengekniffenen Äuglein, und die Flecken und Verfärbungen in dem weichen Schwabbelgesicht traten feuriger hervor als gewöhnlich.
»Möchtest du einen Becher Wein?« fragte Gilgamesch schließlich.
»Wein ist mir stets willkommen. Ja, danke.«
Gilgamesch winkte. Ein Diener brachte einen Krug voll des schweren dunklen Uruk-Weins.
Simon trank kräftig, verschüttete ein wenig davon auf seine bereits von dunkelpurpurnen Flecken besudelte Toga und sagte: »Nun hast du also dein Königtum zurück, Gilgamesch.«
»So ist es.«
»Die Königsherrschaft, die du so hartnäckig nicht hast haben wollen.«
»Sie ist mir zugefallen. Es wäre falsch gewesen, sie abzulehnen.«
»Ja, wahrlich falsch«, sagte Simon. »Es gibt so etwas wie eine fundamentale Richtigkeit, der man sich fügen muß, und wir erkennen sie, wenn wir auf sie stoßen. Es ist eine Kraft, geteilt zwischen Oben und Unten, sich selber erschaffend, selbst
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