Das Land der lebenden Toten
ich, Mutter, wir waren Tausende von Jahren getrennt und haben uns doch wiedergefunden, nicht wahr?«
»Und jetzt hast du vor, weiß der Himmel wohin loszuziehen, obwohl du weißt, daß du sie vielleicht niemals wiedersehen wirst!« rief Vy-otin laut. »Deine Mutter verlassen, deine Freunde, alles, was du hier in Uruk aufgebaut hast, alles zurücklassen, was du kennst und liebst – nein, Gilgamesch! Das ist nicht recht!«
»Laß ihn, Vy-otin«, sprach Ninsun. »Er hat seinen Entschluß doch bereits gefaßt, siehst du das nicht?«
»Der Haarmensch«, murmelte Herodes.
»Frieden und Freude, König von Uruk«, sagte der Uralte, der eben den Thronsaal betrat. Er vollzog eine hastige beiläufige Ehrbezeugung. »Ich habe die benötigten Dinge aus Brasil kommen lassen«, sagte er. »Hast du dich entschieden?«
»Du hast alles bereits zusammen?«
»Ja, alles, was ich brauche.«
Gilgamesch sah ihn mit offenem Mund an. »Wie kannst du von dort so rasch etwas besorgen? In einem, in zwei Tagen? Es dauert Wochen, Monate, um nach Brasil zu gelangen und zurück…«
»Manchmal geht es schneller, König Gilgamesch. Ich sage dir, ich habe alles, was nötig ist.«
Noch mehr Zauberkraft, dachte Gilgamesch. Dieses Geschöpf aus der Zeitendämmerung entzog sich seinem Begreifen.
»Also, so sei es denn«, sprach er achselzuckend.
»Du willst die Reise unternehmen?«
»Ich will. Und Enkidu. Und das Weib, Helena von Troja.«
»Auch Helena?«
»Es ist Enkidus Wunsch.«
Der Behaarte Mensch schwieg einen Moment lang.
»Simon der Magier hat Kenntnis davon, daß sie sich hier befindet«, sagte er dann. »Und es ist sein Wunsch, daß Helena von Troja ihm zugeführt werde, o König.«
»Ach? Wahrhaftig?«
»Ja, sein starker Wunsch.«
»Ja, glaubt denn Simon, sie gehörte mir und ich könnte sie nach Belieben verschenken – wie einen Sack voll Rubine?«
»Sie waren einst ein Liebespaar. Und er will sie wiedersehen.«
»Wenn man Helena zu jedem zurückschaffen müßte, der jemals ihr Geliebter war, dann müßte sie durch die Nachwelt sausen wie ein Komet«, sagte Herodes lachend.
Gilgamesch gab ihm ärgerlich ein Zeichen, den Mund zu halten. Und zu dem Behaarten sprach er: »Ich bedaure sehr, daß ich einem so bedeutenden Magier und Weisen wie Simon eine Enttäuschung bereiten muß.«
»Du wirst sie ihm also nicht senden?«
»Nein!« sagte Gilgamesch. »Sie wünscht mit Enkidu zu gehen. Und Enkidu wünscht, daß sie mit ihm geht. Weshalb sollte ich die beiden trennen? Simon hat seine Edelsteine von mir erhalten. Das sollte ihm doch genügen.«
Der Behaarte Mensch wirkte unbeeindruckt. »Wie du wünschst, o König. Doch sollst du wissen, daß keiner von hier ins Land der Lebenden mit einem anderen zusammen gelangen kann. Wer dorthin geht, der geht allein.«
»Was soll das heißen?«
»Was es sagt.«
»Es kann nur einer von uns gehen?«
»Ihr alle könnt gehen. Aber jeder geht allein und kommt allein an. Es ist der einzige Weg.«
»Und Enkidu und ich werden nicht beieinander sein, wenn wir dahin gehen?«
»Ihr macht die Reise allein, und ihr werdet allein ankommen.«
»Doch sobald wir dort sind, werden wir uns wiederfinden können?«
»Vielleicht.«
Gilgamesch atmete lange und schwer. »Aber du bist da nicht sicher?«
»Ich war nicht mehr im Land der Lebenden, König Gilgamesch, seit mehr Jahren, als du Haare auf dem Kopf hast. Wie soll ich sagen können, was dort geschehen wird? Doch jetzt komm, komm! Alles ist für die Reise bereit.«
»Einen Augenblick noch!« Gilgamesch spähte in dem weiten dunklen Saal umher. »Wo ist Enkidu?«
»Ich gehe ihn holen«, sagte Herodes und verschwand aus dem Raum.
Kurz darauf kehrte er zurück, mit Enkidu im Schlepptau wie ein Felsen auf Beinen und einer strahlenden Helena neben Enkidu. Gilgamesch sagte sofort: »Der Haarmann war bereits in Brasil und ist wieder zurück, aber fragt mich nicht, wie. Er hat die Sachen, die nötig sind, den Weg ins Land der Lebenden zu öffnen.«
Enkidu lächelte breit, doch rasch wurde sein Gesicht sehr ernst. »Und du wirst mit uns kommen auf die Überfahrt, Bruder?«
Auf einmal war es sehr still im Saal.
»Ich gehe mit«, sagte Gilgamesch ruhig.
»Bei Enlil! Beim Himmelsvater An! Ich wußte doch, du wirst es tun! Immer habe ich es gewußt…«
»Warte«, unterbrach ihn Gilgamesch. »Eins wisse, Enkidu. Der Mann sagt, Simon wünscht, daß wir ihm Helena als Geschenk senden.«
»Er sagt was?« brüllte Enkidu. Und aus seiner Brust drang ein
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