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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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sagte Gilgamesch, und ihm war, als bräche ein Damm in seinem Herzen. »Du hast mir stets nur die Wahrheit gesagt, Mutter. Wie sollte ich jetzt an dir zweifeln?«
     
     
    Der Behaarte Mann sagte: »Hier ist die Salbe. Reibt euch damit die Wangen ein und den Hals und über den Augen. Dann laßt Stille in euer Herz einziehen und wartet.«
    »So ist es also eine Zauberdroge, die uns hinbringt?« fragte Gilgamesch. »Die gleiche, die Calandola benutzte bei der Offenbarung der Erkenntnis?«
    »Nichts dergleichen«, antwortete der Behaarte.
    Er setzte drei Schalen aus weißem Porzellan vor sie hin. Sie befanden sich in einem der obersten Räume des Palasts, einem kahlen leeren Gemach mit schmalen Schlitzen als Fenstern, durch die nur ein höchst schwacher Lichtschimmer drang und ein Hauch glutheißer Luft. Gilgamesch warf einen Blick zu Enkidu hinüber, der bereits die Schale genommen hatte und sich das Zeug eifrig ins Gesicht rieb. Auch Helena begann sich damit einzureiben. Doch er selbst zögerte, nach seinem Salbentigel zu greifen. Es überraschte ihn, daß er in einem so späten Augenblick noch zaudern sollte. Er wußte, das hing mit den Veränderungen zusammen, die sein Geist in seinem jüngsten Leben durchgemacht hatte: Er, der einstmals vor nichts gezögert hatte, starrte nun beklommen auf den kleinen weißen Porzellantigel, als enthielte er ein scharfes Gift, das ihm das Fleisch von den Knochen brennen würde.
    Also sprach er zu dem Behaarten: »Sag du mir nur eines noch…«
    »Sag mir, sag mir, immer nur sag mir! Genug der Fragen, König Gilgamesch! Tu es einfach! Geh!«
    »Genau, Bruder!« rief Enkidu. »Wir müssen alle gemeinsam aufbrechen!«
    »Ja«, stammelte Gilgamesch. »Das müssen wir.«
    Und er nahm den Salbtopf. Dieser war warm, und aus ihm stieg ein starker Duft auf, der war wie Honig und Wein und Rosenöl, aber dazu auch noch scharfe brennende Gewürze, die ihm in die Nase stachen, und noch etwas anderes, ein schweres, beklemmendes Aroma, dunkel, dumpf und fremdartig. Die beiden anderen hatten ihre Salbung inzwischen beinahe beendet. Gilgamesch tauchte die Finger in den Topf und hob die Salbe an sein Gesicht. Kurz dachte er an jene andere Salbung, die Calandola mit jenem seltsamen Öl an ihm vorgenommen hatte, als er ihm einen fremdartigen Wein zu trinken gab und dann ein gräßliches Fleisch zu essen, und er erinnerte sich wieder an alles, was aus diesem unheimlichen Ritual entstanden war. Nun, so sei es denn, und komme, was da wolle: Er hatte sich auf dieses Abenteuer eingelassen, also wollte er nicht länger zaudern. Er rieb sich die Salbe auf die Wangen und fühlte ein Brennen, jedoch es war nicht schmerzhaft, und er rieb sich davon den Hals ein und die Stirn, bis das Töpfchen leer war, und der Duft der Salbe stieg ihm in die Nüstern und zog tief hinab in seine Lunge.
    Beinahe sogleich fühlte er sich benommen, spürte, daß ihm die Kehle eng wurde. Er wankte, fing sich wieder, wankte erneut. Die Stille ringsum war gewaltig. Er hatte mit Rascheln, Zischen und Brummen gerechnet, mit Traumgeräuschen, Hexenlärm, mit unheimlicher Musik in der Luft, dem Klatschen von Fledermausflügeln, dem Kreischen und Heulen von Ungeheuern. Aber da war nichts. Nichts. Nur bestürzend klare Wahrnehmung und eine gewaltige Stille, die das Schweigen des Mondes hätte sein können.
    Er sah zu Enkidu und Helena hinüber. Sie standen entfernt voneinander und hatten starre Augen, als schauten sie in ein endloses Nichts. Der Behaarte Mensch war nirgendwo zu sehen.
    »Bruder!« rief Gilgamesch. »Ich spüre, daß ich fortgehe, Bruder. Wirst du mitgehen?«
    Doch er konnte nicht einmal den Klang der eigenen Stimme hören, und von Enkidu kam keine Antwort.
    Und dann sah er plötzlich die beiden nicht mehr. Er befand sich allein und auf einer großen kahlen Fläche unter einem leeren Himmel. Hinter ihm ragte ein vereinzelter gewaltiger Felsen auf, hoch wie ein Gebirge. Vor ihm gähnte der Abgrund, der gewaltige Riß, der zwischen den Welten liegt. Und am Rand dieses Abgrunds ragte ein ungeheuer hoher Baum unermeßlich weit empor, ein blattloser Baum, nur mit kahlen starren Ästen, die ihrerseits gleichfalls so dick waren wie gewaltige Bäume, die wie Leitersprossen von ihm ausgingen.
    Und er wußte, was für ein Baum das war. Es war die Axis Mundi, die Spindel der Welt, der Baum des Lebens, um den alles andere sich dreht, dessen Wurzel im Kern der Schöpfung ankert, und seine Zweige ragen über das Dach des Himmels hinaus.

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