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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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ein fahles trübes Eisengrau, so wenig man von ihm zwischen den hohen Spitzen der Gebäude sehen konnte. Gilgamesch befand sich auf einem breiten geraden Boulevard, auf dem sich in erstickender Dichte rasch eilende Fahrzeuge drängten. Rechts und links sah er weniger breite Straßen, die rechtwinklig von links und rechts auf den großen Boulevard trafen, abgezirkelt und unnatürlich starr, wie von einem verrückten Mathematiker angelegt. Der Boden bebte, möglicherweise von der Wucht der lauten stinkenden Heerscharen von Fahrzeugen, die unablässig dröhnend vorbeizogen. Gilgamesch trug irgendein Kleidungsstück der Später Toten, es war eng, kniff und war unbequem.
    Massen von Leuten in grotesken Spättotenkleidern ähnlich dem seinen drängten an ihm vorbei wie verzweifelte Soldaten, die in eine Schlacht eilen, sie brüllten heiser, fuchtelten wütend mit den Armen, schubsten ihn und stießen ihn und bahnten sich ihren Weg um ihn herum, der wie erstarrt mitten in dem Menschenstrom stand.
    Er sah sich um. Das Gebäude direkt hinter ihm, es war eines der höchsten, schien ganz aus den Platten eines weißlichen stumpfen Metalls gemacht und stieg, Turm über Turm sich erhebend, in Stufen nach oben. An und für sich schon seltsam: ein Gebäude aus Metall. Die stumpfen bleichen Platten, welche die Außenhülle des Bauwerks bildeten, wirkten dermaßen dünn, daß er seinen Finger hätte hindurchstoßen können, und sie waren mit ständig sich wiederholenden ornamentalen Basreliefs geschmückt, die ganz und gar und überhaupt nicht ästhetisch angenehm waren, eher eigentlich vulgär wirkten. Und es gab kein richtiges Tor, nur eine gähnende Öffnung in eine weite Halle. Und dort stürzten sich wilde Menschenhorden mit eisigen Augen hindurch und zu kleineren Öffnungen im Innern oder in ebenerdige Ladengeschäfte mit gläsernen Wänden, wo irgendwelche glatte, unbegreifliche Produkte der Spättoten zum Verkauf standen.
    Hinter diesem Gebäude standen weitere, aus Metall in jeglicher Tönung, aus Stein, aus Glas. Ein paar Straßen weiter sah er eins, das war breit und nicht so hoch wie die anderen, das ein Tempel hätte sein können, oder ein Palast: Es war aus bleichem grauen Stein und nicht ganz unähnlich dem Bau, den Dumuzi sich im Nachwelt-Uruk hatte errichten lassen, mit großen gewölbten Portalen und Doppeltürmen, die sich über der reichgegliederten Fassade erhoben. Dahinter stand ein weiterer Turm aus mattschimmernder dunkler Bronze, so schien ihm jedenfalls, der so hoch war, daß er gewißlich durch seine Höhe sogar die Götter hätte erzürnen müssen. Und dahinter noch ein Turm, beinahe ebenso gewaltig, und noch einer und mehr und mehr…
    In seinem Kopf war ein wildes Brüllen.
    Weshalb mußten sie alles so eng bauen und so hoch? Nie hätte er sich eine Stadtlandschaft von derart beeindruckender Brutalität vorstellen können. Kein einziger Flecken Gras in Sicht, nicht ein Baum. Und der Lärm, die wahnsinnige Hektik, die leeren gehetzten Gesichter, die er überall ringsum sah…
    War es wirklich denkbar, daß das hier der Ort der Lebenden war? Oder war er getäuscht und betrogen worden, und hier war die Grube, die Tiefe, der Unterste Schlund, in die er geraten war?
     
    - »Jesus! Schau dir den Brocken an!«
    - »Kannst du mir sagen, wie spät es ist, Mister? He, Mister? Du da, Mister?«
    - »Um Himmels willen, steh doch nicht so blöd da und versperr die ganze verdammte Straße!«
    - »Brauchst du ‘nen Walkman? Zum halben Preis? Brandneu, noch in der Originalpackung. Wir haben Armbanduhren, echte Rolex, du glaubst es nicht, wenn du den Preis hörst, gleich zum Mitnehmen – oder viel leicht einen TV-Portable? Sony, Zweizollbildschirm?«
    - »Mammi? Mammi?«
    - »Eine Kleinigkeit für die Obdachlosen?«
    - »Tschuldigung…«
    - »Tschuldigung…«
    - »He, du Brocken, beweg deinen Arsch!«
    - »Koschere Dogs? Krakauer? Falafel?«
    - »Bitte nimm es und lies. Das Allerneueste über die Ankunft des Messias, und der HERR segne dich…«
    - »Mammiiii?«
    - »Ich brauch’ man bloß ‘n paar Kröten für ‘nen U-Bahnfahrschein, könntest du mir vielleicht ‘n bißchen aushelfen?«
    - »Jesus Christus! Steh doch nicht so blöd da rum!«
     
    Wenn es ihm möglich gewesen wäre, er hätte nach dem Baum gesucht, der zwischen den Welten wächst, und wäre wieder in den Bereich zurück geklettert, den er so überstürzt hinter sich gelassen hatte. Doch dieser Baum war nirgendwo zu sehen – und ebenso wenig

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