Das Land der MacKenzies
Seine Augen blitzten amüsiert auf. „Sie haben die Bergstraße auf der Vorderseite genommen, obwohl Sie nicht daran gewöhnt sind, bei Schnee und Eis Auto zu fahren?“
„Ich wusste gar nicht, dass es auf der anderen Seite auch eine Straße gibt, ich dachte, das sei die einzige. Mit den Winterreifen hätte ich es bestimmt geschafft.“
„Möglich.“
Joe klang nicht sehr überzeugt, aber sie sagte nichts, weil sie selbst nicht besonders zuversichtlich war. Er führte sie durch einen gemütlichen rustikalen Wohnraum mit schweren Balken in der Decke und über einen kurzen Korridor zu einer offenen Tür. „Meine alten Sachen sind in der Abstellkammer, aber es wird nicht lange dauern, sie zu holen. Sie können sich hier umziehen. Das ist mein Zimmer.“
„Danke“, murmelte sie und trat ein. Auch dieses Zimmer war rustikal gehalten, mit dunklen Balken und holzverkleideten Wänden. Nichts ließ erkennen, dass dieser Raum von einem Teenager bewohnt wurde, es gab weder herumliegendes Sportgerät noch achtlos auf den Boden geworfene Wäscheteile. Das große Bett war ordentlich gemacht, ein handgenähter Quilt lag obenauf. Neben dem Bett verdeckten Bücherregale, offensichtlich selbst gebaut, aber fein säuberlich abgeschliffen und lackiert, die gesamte Wand. Die vielen Bücher fanden kaum Platz darin, und neugierig näherte Mary sich, um die Buchrücken zu studieren.
Jedes einzelne Buch hatte auf die eine oder andere Art mit dem Fliegen zu tun, angefangen von da Vincis Experimenten bis hin zum Drachenfliegen. Es gab Bücher über Bomber, Helikopter, Radarflugzeuge, Jets und Frachtmaschinen, über Luftschlachten, experimentelle Flugfahrt, Flugdesign und Motoren.
„Hier sind die Sachen.“ Joe war lautlos in den Raum getreten und legte die Kleidungsstücke auf dem Bett ab. Mary betrachtete ihn, sein Gesicht war völlig ausdruckslos.
„Dir gefallen Flugzeuge“, sagte sie und krümmte sich innerlich, weil es sich so banal anhörte.
„Ja“, gab er schlicht zu.
„Hast du schon mal daran gedacht, Flugstunden zu nehmen?“
„Ja.“ Mehr sagte er nicht, sondern verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Sehr nachdenklich zog Mary sich um. Diese Büchersammlung deutete nicht nur auf simples Interesse hin, sondern vielleicht sogar auf eine Art Besessenheit.
Besessenheit war eine seltsame Sache. Ungesunde Obsessionen konnten Leben ruinieren, andere dagegen ließen die Menschen über sich selbst hinauswachsen, erfüllten sie mit einer Art loderndem Feuer, sodass sie von innen heraus zu leuchten schienen. Wurde dieses Feuer nicht genährt, hungerten Geist und Seele, bis der Mensch dahindarbte. Falls Mary recht mit ihrer Vermutung haben sollte, dann hatte sie einen Weg gefunden, um zu Joe durchzudringen und ihn dazu zu bewegen, wieder die Schule zu besuchen.
Die Jeans passte. Angewidert von dem weiteren Beweis, dass sie die Figur eines zehnjährigen Jungen hatte, schlüpfte Mary in das viel zu große Flanellhemd und schlug die Ärmel um. Die Stiefel waren natürlich auch viel zu groß, aber wie Wolf gesagt hatte, mit zwei Paar dicken Wollsocken schlappten sie ihr zumindest nicht über die Fersen. Die Wärme an den Füßen war herrlich, und Mary beschloss, jeden Penny beiseitezulegen, um sich schnellstmöglich ein Paar eigene Stiefel leisten zu können.
Als Mary in den Wohnraum kam, legte Joe Holzscheite in dem großen offenen Kamin nach. Ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen, als er sie erblickte. „Wie Mrs. Langdale sehen Sie auf jeden Fall nicht aus. Auch nicht wie die anderen Lehrer, die ich kenne."
Sie verschränkte die Finger. „Das Äußere sagt nichts über die Befähigungen aus. Ich bin eine sehr gute Lehrerin - auch wenn ich im Moment eher wie ein zehnjähriger Junge aussehe."
„Ich war zwölf, als ich diese Jeans getragen habe."
„Das ist allerdings ein Trost."
Er lachte auf, und Mary freute sich darüber. Sie hatte das Gefühl, dass weder Vater noch Sohn oft lachten.
„Warum bist du von der Schule abgegangen?" Aus Erfahrung hatte sie gelernt, dass man, wenn man die gleiche Frage immer wieder stellte, oftmals verschiedene Antworten bekam. Irgendwann war der Gefragte das Ausweichen für gewöhnlich leid und rückte mit der ehrlichen Antwort heraus. Doch nicht so bei Joe, er benutzte exakt die gleichen Worte wie zuvor.
„Da gab es nichts für mich.“
„Nichts mehr zu lernen?“
„Ich bin Indianer, Miss Potter. Ein Halbblut. Was ich lernte, habe ich mir selbst
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