Das Land der MacKenzies
Anstand so völlig vergessen hatte. Aber dann sah Mary auf, als Wolf lautstark mit dem Stiefel aufstampfte, und ihr Herz floss förmlich über. Sie liebte diesen Mann. Gab es etwas Moralischeres als Liebe? Und was den Anstand anbelangte ... mit einem Schulterzucken verabschiedete sie sich von der anerzogenen Zurückhaltung. Man konnte eben nicht alles haben.
Joe hatte seine Bücher auf dem Tisch ausgebreitet und bereitete frischen Kaffee zu, als Wolf und Mary in die Küche kamen. Mit einem Stirnrunzeln sah er zu seinem Vater hin. „Dad, das wird langsam lästig. Du stiehlst mir Zeit von meinem Unterricht.“
Das belustigte Funkeln in den eisblauen Augen und die Wortwahl seines Sohnes hielten Wolf davon ab, wütend zu werden. Er zauste Joe das Haar. „Sohn, ich habe es schon einmal gesagt ... dein Timing ist miserabel.“
Die Unterrichtszeit wurde noch mehr beschnitten, denn alle hatten einen Bärenhunger, sodass sie ein gemeinsames Abendessen einschoben. Sie einigten sich auf Sandwichs, weil die schnell zubereitet waren. Gerade als sie fertig gegessen hatten, fuhr draußen ein Wagen vor.
„Du liebe Güte, hier herrscht ein Betrieb wie auf dem Hauptbahnhof", murmelte Mary, bevor sie aufstand und die Tür für den neuen Besucher öffnete.
Clay nahm seinen Hut ab, als er eintrat, und hielt kurz inne. „Das riecht nach frischem Kaffee."
„Gerade gemacht." Wolf hob die Kanne an, während Mary eine Tasse aus dem Schrank holte.
Clay ließ sich seufzend auf einen Stuhl am Tisch sinken und nahm dankend die Tasse entgegen, die Wolf ihm reichte. „Ich dachte mir schon, dass ich Sie beide hier finde."
„Gibt es etwas Neues?", fragte Wolf.
„Nein, außer ein paar Beschwerden. Sie haben wohl einige Leute nervös gemacht."
„Womit?", schaltete Mary sich ein.
„Ich habe mich ein wenig umgesehen", erklärte Wolf, doch sein lässiger Ton täuschte weder Mary noch Clay.
„Lassen Sie es gut sein. Sie sind schließlich kein Ein-Mann-Einsatzkommando. Ich warne Sie hiermit zum letzten Mal."
„Ich denke nicht, dass ich irgendetwas Illegales getan habe. Ich behindere die Untersuchung nicht, ich habe keine Leute befragt, weder verheimliche ich Beweise, noch habe ich welche zerstört. Ich bin lediglich herumgelaufen und habe mich umgesehen.“ Wolfs Augen begannen zu funkeln. „Wenn Sie clever wären, würden Sie meine Fähigkeiten nutzen. Einen besseren Spurensucher als mich werden Sie nicht finden.“
„Und wenn Sie clever wären, würden Sie auf das aufpassen, was Ihnen gehört.“ Clay sah vielsagend zu Mary, und sie presste verärgert die Lippen zusammen. Dieser Mann würde sie doch tatsächlich verpetzen!
„Das tue ich“, antwortete Wolf.
„Vielleicht nicht so gut, wie Sie denken. Mary hat mir von ihrem Plan erzählt. Sie will sich als Köder anbieten, um diesen Kerl aus seinem Loch hervorzulocken.“
Wolf wandte sich abrupt um. Die schwarzen Brauen zusammengezogen, nagelte er Mary auf der Stelle, an der sie stand, mit seinem Blick fest. „Nur über meine Leiche“, sagte er leise. Überrascht schien er nicht zu sein, nur absolut entschlossen.
„Das habe ich ihr auch gesagt. Ich hörte, Sie und Joe eskortieren sie zur Schule und wieder nach Hause. Aber was ist mit der Zeit dazwischen? Und in zwei Wochen beginnen die Ferien. Was machen Sie dann?“
Mary straffte die schmalen Schultern. „Ich werde nicht dabeistehen und zuhören, wie ihr über mich redet, als wäre ich unsichtbar. Das hier ist mein Haus, und ich möchte euch alle daran erinnern, dass ich längst volljährig bin. Ich gehe, wann und wohin ich will.“ Sollten sie das erst einmal verdauen! Sie war nicht umsonst von Tante Ardith großgezogen worden. Die Tante wäre eher gestorben, schon aus Prinzip, bevor sie sich etwas von einem Mann hätte vorschreiben lassen.
Wolfs Blick hatte sie die ganze Zeit über nicht losgelassen. „Du wirst genau das tun, was man dir sagt.“
„An Ihrer Stelle“, mischte Clay sich jetzt wieder ein, „würde ich sie mit auf den Berg nehmen. Wie gesagt, die Ferien beginnen bald, und dieses Haus liegt ziemlich weit ab von allem. Niemand braucht zu wissen, wo sie ist. Das ist auf jeden Fall sicherer.“
Wütend griff Mary Clays Tasse und schüttete den heißen Inhalt ins Spülbecken. „Meinen Kaffee trinken Sie nicht! Sie mit Ihrem losen Mundwerk!“
Er sah verdutzt drein. „Ich will Sie doch nur beschützen.“
„Und ich will ihn beschützen!“, schrie sie.
„Wen willst du beschützen?“, fragte
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