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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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musste der außergewöhnlichste Mensch sein, der seit Jahren in ihren Reihen wandelte. Und doch hatten sie offenbar beschlossen, sie zu ignorieren, und stoben auseinander, um ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen. Ihre schillernde Kleidung, einfache Gewänder und Kittel, schimmerte in dem wellenförmigen Licht des Mittelpunkts. Während Lily in ihrer Mitte ging, drangen Fetzen ihrer Gespräche an ihr Ohr.
    »Es kann nicht wahr sein, oder? Nein, das ist nicht möglich …«
    »Glaube es mal lieber! Das ist Wissen von höchster Qualität! Also, was gibst du mir dafür?«
    »… und sie hat gedacht, es käme sonst keiner, es war einfach nicht ihr Glückstag!«
    »Alles, was ich über dieses Dorf weiß, ist wertlos! Ich habe bloß alte Nachrichten … das ist der schlimmste Tag in meinem Leben! Warum mussten sie denn unbedingt eine neue Sprecherin wählen?«
    »Tja, sie war schon ein paar Tage tot …«
    »… das ist keine Entschuldigung!«
    Jedes Mal, wenn sie die Andeutung von etwas Vertrautem mitbekam, löste es sich in einem Meer von Unsinn auf. Der Chor bewegte sich nun schneller um sie herum; manche hasteten herbei, um weitere Menschen zu begrüßen und andere abzuweisen. Es war eine Menschenmenge, die mit keiner zu vergleichen war, in der sich Lily jemals befunden hatte. Sie war laut und doch isoliert, so als wolle jeder Einzelne überall und nirgends zugleich sein. Lily verlor allmählich die Orientierung, während sie von einer Gruppe zur anderen stolperte und versuchte, irgendwo den Dirigenten auszumachen. Sie war so davon in Anspruch genommen, dass sie Tertius und Septima erst bemerkte, als die beiden ihr fast schon Auge in Auge gegenüberstanden.
    Das Paar blieb vor ihr stehen. Einen Moment lang schauten sie erst einander und dann wieder Lily an, ein wenig verblüfft, so als wäre sie jemand, dem sie vor Jahren bereits einmal begegnet waren. Dann wandte sich Septima erneut Tertius zu, und die beiden nahmen ihr Gespräch wieder auf.
    »Das wirst du nie glauben«, fuhr sie fort, die Augen geweitet. Ihre Hände zuckten. »Sie wird bei Crede bleiben! Was, glaubst du, wird er jetzt unternehmen?«
    »Wen interessiert das?«, brummte Tertius, während er Lily umging, als wäre sie gar nicht da. »Warum lauschst du eigentlich immer den agoranischen Echos? Gestern Abend habe ich etwas wirklich Gutes aus Giseth gehört. Einer der Mönche wird vermisst. Seine Sprecherin ist verzweifelt.«
    »Wirklich? Das ist erstaunlich!« Septima rang vergnügt nach Luft, während sie ihm folgte. »Äh … Was war ein Mönch noch mal?«
    Dann waren Septima und Tertius fort, gingen in dem Geplapper unter. Lily starrte ihnen mit offenem Mund hinterher. War es wirklich erst gestern gewesen, dass sie sich angeschrien hatten? Und hatten sie tatsächlich über Agora gesprochen? Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihnen hinterherlaufen sollte, um sie zu fragen, was sie gehört hatten. Ob sie wohl Neuigkeiten aus ihrer weit entfernten Heimat hatten? Aber sie hätten ihr dann ja doch lediglich bedeutungslose Fetzen anbieten können, nackte Fakten ohne Zusammenhang oder Erfahrung. Wahrscheinlich lauschten sie schon seit Jahren den Stimmen aus Giseth, und dennoch hatte Septima immer noch keine klare Vorstellung davon, was ein Mönch war. Genau wie sie hundert Fakten über Agora in Erfahrung gebracht hatte, aber keine Vorstellung davon hatte, was eine Stadt war.
    Aber war das denn überraschend?, fragte sich Lily, während sie ihren Weg fortsetzte. In Giseth brauchten sie einander nicht zu erklären, was Mönche waren, weil sie diese jeden Tag sahen. Lily schüttelte den Kopf, während sie sich versuchte vorzustellen, wie es gewesen wäre, als Naruvaner groß zu werden und so viel zu wissen, aber so wenig zu begreifen. Es hatte den Anschein, als redete hier nur der Dirigent vernünftig.
    Jedenfalls hatte er das gestern getan. Schaudernd fragte sich Lily, ob der Dirigent sich an sie erinnern würde, wenn sie ihn fand. Er hatte einen verständigeren Eindruck gemacht, aber Alter war hier kein Anzeichen für Beständigkeit. Zwei alte Männer waren bereits an ihr vorbeigekommen und hatten sich wie Schuljungen darüber gezankt, ob Schafe oder Ziegen die besseren Haustiere abgeben würden. Lily fragte sich, ob sie das eine oder andere schon jemals gesehen hatten.
    Als sie dann tatsächlich den Dirigenten entdeckte, der sich gerade in der Nähe des Podiums aufhielt, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass er ihren Blick erwiderte und sogar seine

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